Sanft strich Malin über den Arm seines besten Freundes. Dieser wirkte gradezu fragil. Malin war sich sicher, dass er zerbrechen würde, wenn er nicht aufpasste. Eigentlich hätte er jetzt an der Universität sein müssen, aber was konnte schon ein Seminar über Religionspädagogik gegen ein Krankenhauszimmer ausrichten. Seminare konnte man nachholen, auch wenn das seine Dozentin warscheinlich anderes sehen würde. Eigentlich wollte Malin seinen besten Freund gerne schlafen lassen, aber er wusste auch, wie begrenzt seine Zeit war. Schließlich herrschte bei der anschließenden Vorlesung Religionsethik Anwesenheitspflicht und Malin hatte seinem Freund Marc versprechen müssen, nicht ein weiteres Semester sein Studium für ihn auf Eis zu legen. Letztendlich war er im letzten Semester auch nur durch die Prüfung in Religionsethik gefallen und jetzt drängte ihn Marc dazu, dieses Jahr zu bestehen, damit er nicht die Schuld an einem Studiumsabbruch haben würde. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte.
"Wenn du mich so anstarrst als sei ich aus Porzellan, breche ich nachher wirklich unter deinen Blicken!"
Marcs Worte rissen Malin aus seinen Gedanken und er blickte in das Gesicht seines grinsenden Freundes. Dunkle Augenringe beherrschten sein Gesicht und besäße Malin keine Fotos mehr von ihnen, würde er sich warscheinlich gar nicht mehr daran erinnern, wie Marcs Gesicht ohne die Augenringe ausgesehen hatte.
"Ich denke es ist das Mindeste, dass du wach bist, wenn ich schon für dich das Seminar bei der Hüffmeier schmeiße."
Leicht verzog Marc das Gesicht, als hätte er Schmerzen.
"Du weißt, dass ich nicht will, dass du dauernd Seminare für mich verpasst."
Empört blies Mailn seine Haare von der Stirn und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück, ohne seine Hand von dem Arm seines Freundes zu nehmen.
"Ich hätte gar nicht so viele Veranstaltungen belegt. Du hast mich schließlich zu dem Stundenplan gezwungen. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich maximal ein Teilzeitstudium gemacht. Nur weil du dich immer versucht hast, an die Regelstudienzeit zu halten, muss das ja nicht für mich gelten."
Leicht seufzte Marc. Er wusste, dass sein Freund Recht hatte. Sein Atem ging schwer und seine Glieder schmerzten. Manchmal war es ihm unangenehm, dass Malin ihn so sah, aber daran hatte er sich gewöhnen müssen, sodass es schon nach wenigen Monaten normal geworden war.
"Wenn du schon hier bist, dann erzähl mir doch wenigstens, was an der Uni so läuft. Hier passiert ja nie was."
Jetzt musste Malin lachen. Warscheinlich verbrachte er fast genauso viel Zeit hier im Krankenhaus, wie Marc. Wenn es das Krankenhauspersonal nicht untersagen würde, hätte er sich warscheinlich längst ein Bett neben das von Marc gestellt.
"Eigentlich alles wie immer. In meiner Lerngruppe ist inzwischen jemand neues. Sie kommt aus München und hat die Uni gewechselt. Wenn du mich fragst, interpretiert sie die Bibel etwas zu wörtlich."
Malin verzog das Gesicht und sah auf Marc hinab, der bei den Worten seines Freundes die Augen geschlossen hatte und aufmerksam zuhörte. Die meiste Zeit verbrachten sie so. Marc fragte nach dem Leben außerhalb dieses Gebäudes und sog jede alltägliche Geschichte in sich auf, als würde er nur noch dadurch leben. Und vielleicht tat er das tatsächlich. Also erzählte Malin manchmal stundenlang unwichtige Sachen und Marc hörte einfach nur zu.
Als Malin nichts mehr einfiel, was er erzählen konnte, schwieg er. Einige Minuten schwiegen sie gemeinsam, bevor Malin sorgenvoll beobachtete, wie sich Marc in dem Bett aufsetzte. Intuitiv wollte Malin seinem Freund aufhelfen, aber dieser wollte sich das letzte bisschen Autonomie, dass er besaß, bis zum Ende behalten. Malin konnte das verstehen. Dennoch brannte in ihm das Bedürfnis alles für Marc zu erleichtern. Also ging er auf die andere Seite des Bettes hinüber und rückte den Schmerztropf zurecht, der in Zeitlupe durchsichtige Flüssigkeit in den Eingang an Marcs linkem Arm tropfte. Sein Arm war an zu vielen Stellen rot unterlaufen und blau. Seine Haut war mit der Zeit dünn wie Papier geworden und es kam nicht selten vor, dass die Krankenschwester die Haut mit abriss, wenn sie ein Pflaster entfernte. Dennoch wusste Malin, dass Marc froh war, dass momentan kein Eingang auf seinem Handrücken lag.
Erst als Malin wieder auf dem Stuhl saß, die Beine unruhig übereinander geschlagen, weil die Zeit eindeutig zu schnell voranschritt, ergriff Marc das Wort.
"Tust du mir einen Gefallen?"
Augenblicklich nickte Malin. Es gab nichts, was er Marc abschlagen könnte.
"Holst du mich hier raus?"
Jetzt zuckte Malin zurück. Er war ebenso verwirrt, wie erschüttert. Marc schien Malins Unsicherheit aufgefallen zu sein, denn er fuhr dirket fort.
"Bitte Malin. Ich halte das hier nicht mehr aus. Inzwischen weiß ich nichteinmal mehr, wie lange ich hier schon bin."
Malin wusste das genau.
"Ich möchte noch einmal die Welt dort draußen sehen. Mehr als die Gänge und den Park. Ich möchte noch einmal mit dir durch die Nacht ziehen. Wie früher. Wenn die heiße Luft aus unseren Lungen weiße Wolken in die Nacht zaubert. Wenn er Sternenhimmel über uns von dem Lärm und dem Licht der Stadt verschluckt wird. Ein letztes Mal, bitte. Bevor alles zuende geht."
Malin schluckte und Tränen traten in seine Augen. Meistens gelang es ihm gut, sich die Tränen aufzusparen, bis die Tür hinter ihm zugefallen war und Marc ihn nicht mehr sehen konnte. Aber manchmal gelang es ihm einfach nicht, es zu kontrollieren. Er wusste nicht, wie Marc es schaffte, so stark zu sein. Eigentlich müsste Malin der Starke von ihnen beiden sein. Aber dazu war die Angst viel zu groß. Als Malin sprach, war seine Stimme belegt und selbst mehrmaliges Schlucken brachte ihn nicht dazu, dass der Kloß in seinem Hals verschwand.
Am Telefon war das leichter. Da konnte er den Tränen freien Lauf lassen. Warscheinlich bemerkte Marc dennoch jedes Mal, wie gebrochen seine Stimme klang, aber immerhin blieb ihm dort die Illusion.
"Kann ich das als letzten Wunsch auffassen?"
Hektisch wischte sich Malin die Tränen aus den Augen, als hätte Marc sie nicht längst bemerkt.
Dennoch war Malin überrascht, als Marc auflachte. Erst als sein Lachen zum Ende hin in ein Husten überging, krampfte sich Malins Herz erneut zusammen.
"Scheiße, nein. Hätte ich wirklich einen letzten Wunsch, würde ich mir wünschen zu heiraten, Kinder zu bekommen, das Studium zu beenden. Im richtigen Seminar könnte ich mich warscheinlich auch für Weltfrieden begeistern.
Nein, dass ist nicht mein letzter Wunsch."
Obwohl noch immer Tränen in Malins Augen schwammen, musste er lächeln.
"Also einfach nur ein Wunsch?"
Jetzt griff Marc aktiv nach Malins Hand und drückte sie leicht. Malin kam nicht umhin zu bemerken, wie schwach sein Händedruck geworden war.
"Sieh es als Herzenswunsch."
Noch bevor Malin etwas erwiedern konnte, deutete Marc auf die Uhr.
"Du musst los. Religionsethik beginnt und ich bin nicht bereit, dass du meinetwegen zu spät kommst. Schließlich hast du es mir versprochen."
Seufzend erhob sich Malin und drehte sich an der Tür nocheinmal zu Marc um. Dieser saß noch immer aufrecht im Bett und sah Malin nachdenklich an.
"Denk über meine Bitte nach. Wenn du bereit bist, ihr nachzukommen, dann erwarte ich dich heute Abend.
Ich werde auf dich warten."
Zur Bestätigung nickte Malin und verließ das Krankenzimmer.
Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, lehnte er tief luftholend seinen Kopf gegen das Holz. Ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn und Tränen rannen über seine Wange.
Kurz strich er mit der Hand über das Holz, als würde Marc an der andern Seite das selbe tun. Aber das konnte er nicht.