Eine Fortsetzung rund um Paul und Dayo.
Link zum ersten Teil von Dayo und Paul:
Link zum letzten Teil von Dayo und Paul:
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Paul ist sich nicht sicher, ob es richtig ist, schon wieder zur Arbeit zu gehen. Er hat Angst, eine Reaktion, die ihm fremd ist. Normalerweise hat Paul keine Gefühle. Jetzt fürchtet er sich. Nicht vor den Reaktionen seiner Kollegen. Andere Menschen sind ihm nach wie vor egal. Wenn er in der Zeitung die Todesanzeigen liest, dann hat er kein Mitleid. Dann spürt er keine Trauer. Es ist ihm lediglich egal. Und dennoch hat Paul jetzt Angst.
Seine Schritte führen ihn in sein Büro. Es liegt ebenso vor ihm, wie er es verlassen hat. Als sei er nie weg gewesen. Und wüsste er nicht, dass seine Kollegen erleichtert darüber sind, dass er weg war, dann würde er warscheinlich denken, dass es niemanden interessierte, dass er abwesend war. Die Zeit schreitet viel schneller voran, als sie sollte. Und mit jeder weiteren Sekunde, die die Uhr auf den Mittag zusteuert, wird Pauls Furcht größer. Er weiß auch, wovor er Angst hat. Er hat Angst davor, dass Dayo nicht dort ist und auf ihn wartet. Das er diesen Mittag keine Geschichte hören wird, die ihm wieder vor Augen führt, wie wichtig seine Arbeit ist. Paul hat Angst, dass Dayo aufgegeben hat, um ihn zu kämpfen. Er könnte es ihm nicht verübeln. Paul weiß, wie viel er dafür getan hat, dass Dayo wieder aus seinem Leben verschwindet. Dafür, dass Dayo geht, bevor Paul es nicht mehr kontrollieren kann. Bevor Paul tatsächlich Gefühle entwickelt. Denn wenn er Menschen mag, verletzt er sie. Noch stärker, als wenn er sie dazu bringt, ihn nicht zu mögen. Eigentlich ist es ironisch, dass ausgerechnet Pauls Abwesenheit ihm seine Gefühle vor Augen geführt hat. Vielleicht war es auch sein Therapeut. Sie haben sich angeschwiegen und niedergestarrt. Dennoch hat Paul etwas gelernt. Er braucht jemanden, mit dem er reden kann. Aber dieser Jemand ist nicht sein Therapeut. Also hat das Schweigen und das viele Geld vielleicht doch etwas gebracht.
Als es Mittag ist, steht Paul auf. Seine Hand umschließt fast panisch eine Tüte. Zielstrebig führen ihn seine Schritte zum Pausenraum. Normalerweise ist er immer vor Dayo da. Jetzt ist sein Platz am Fenster gelegt. Regen rinnt in dicken Tropfen am Fenster hinunter und Dayo hat den Kopf von Paul abgewandt und blickt nach draußen. Also nimmt Paul Dayos Platz ein und setzt sich auf den Stuhl an dem kleinen Tisch. Erst als Paul in seinem Tee zu rühren beginnt, wie er es jeden Mittag tut, dreht sich Dayo zu ihm um. Er muss ihn schon viel früher bemerkt haben. Seine Augen sind eingesunken und tiefe Augenringe zeichnen sich unter seinen Augen ab. Paul würde gerne die Geschichte dazu hören, traut sich aber nicht zu fragen.
"Du bist nicht tot."
Dayos Worte klingen kalt. Gradezu emotionslos. Es passt nicht zu ihm.
Paul schweigt, wie er es immer tut. Er wusste nicht, dass er diesen Anschein erweckt hatte. Warscheinlich weil er sich nie Gedanken darüber macht, was andere denken könnten. Für ihn war nur klar, dass Dayo warten würde. Weil er es immer tat.
Dayo tritt einen Schritt näher und lässt eine Zeitung vor Paul auf den Tisch fallen. Eine Schlagzeile springt Paul ins Auge. Eine nicht identifizierte Leiche im Fluss. Paul hat den Artikel gelesen. Er erinnert sich genau an den Morgen. Es war ihm egal. Am gleichen Tag fragte sein Therapeut danach. Paul schwieg, wie er es immer tat.
Jetzt zuckt er nur mit den Schultern.
"Ich lebe noch."
Vielleicht hätte Paul in diesem Moment doch besser geschwiegen.
Paul beobachtet, wie Dayo die Hände zu Fäusten ballt. Er wendet sich ab und blickt stur aus dem Fenster. Paul weiß, dass es jetzt warscheinlich an ihm wäre, etwas zu erzählen, aber er schweigt. Wieder ist es die falsche Entscheidung. Dayo dreht sich ruckartig zu ihm herum. Paul gelingt es erst nach einigen Sekunden, das Glitzern in Dayos Augen mit Tränen in Verbindung zu bringen.
"Ich dachte du wärst tot. Am Anfang hielt ich es für lächerlich. Nach einer Woche hatte ich schreckliche Angst um dich. Und nach einer weiteren Woche habe ich mir gewünscht, dass du wirklich tot wärst. Einfach weil du dich nicht gemeldet hast. Denn wenn du die Leiche in dem Fluss wärst, hättest du wenigstens einen Grund dich nicht zu melden. Ich weiß, wir sind keine Freunde. Noch besser weiß ich, dass du mich von Anfang an nur loswerden wolltest. Jetzt hast du es geschafft. Am ersten Tag hier im Büro kam ich zu dir, weil ich nicht glauben konnte, dass alles, was über dich erzählt wird, wahr ist. Ich wollte dir die Chance geben, die dir niemand sonst gegeben hat. Das war ein Fehler. Ich bin nach wie vor überzeugt davon, dass du kein Monster bist. Aber du bist herzlos."
Dayo wartet einen Moment, als würde er hoffen, dass Paul noch etwas sagt. Zu seiner Verteidigung, zur Erklärung. Aber Paul schweigt. Diesmal, weil es nichts zu sagen gibt. Denn Dayo hat Recht. Paul ist herzlos. Der Moment geht vorüber und als Paul nichts sagt, lässt Dayo die Schultern hängen und wirkt unglaublich erschöpft. Als er geht, wird der Raum von einer unbekannten Leere erfüllt. Jetzt weiß Paul wieder, warum er andere von Beginn an abschreckt. Weil sonst immer er derjenige ist, der verlassen wird. Denn Paul ist vielleicht herzlos, aber in diesem Moment spürt er sein Herz überdeutlich. Seine Hand krallt sich um die Tüte vom Bäcker. Die zwei Muffins landen im Müll. Sie waren als Friedensangebot gedacht. Jetzt bedeuten sie nichts mehr.