Dayo betrat den Pausenraum wie jeden Mittag. Wie immer war Paul bereits da und rührte provokant ignorierend in seiner Tasse herum. Der Geruch bestätigte Dayo, dass es sich wohl um Früchtetee handeln musste. In seiner Heimat hatten sie immer nur Kräutertee besessen. Er ließ sich selbst herstellen und schonte somit den Geldbeutel.
Seit einigen Wochen kam Dayo jeden Tag zu Paul in den Pausenraum. Obwohl ihre Kollegen das mitbekommen hatten, schloss sich in all der Zeit niemand Dayo an. Anscheinend hatte Paul den Rest der Angestellten wirklich nachhaltig verschreckt.
Heute hatte Dayo Brezeln dabei. Große geschwungene Teigrollen, die mit Zucker bestreut waren. Zu Beginn war Dayo dieses Gebäck ein Rätsel gewesen. Er sah keinen Sinn darin, Teig zu formen. Essen war keine Kunst, Essen war lebensnotwendig. Also warum sollte man Essen Formen machen?
Er legte die Tüte mit den zwei Brezeln auf dem Tisch ab. Als Dayo Paul das erste Mal in die Pause gefolgt war, hatte er ihm einen Berliner mitgebracht. Am nächsten Tag lag dieser neben einer Colaflasche und einem schimmelligen Käse im Mülleimer. Dayo war wütend geworden und hatte Paul beschimpft, mit einer Intensität und einer Wut, die nur Menschen besitzen konnten, die in ihrem Leben bereits gehungert hatten. Paul hatte nicht reagiert, wie er nie reagierte. Am nächsten Tag hatte Dayo Paul eine Zimtschnecke mitgebracht. Am nächsten Morgen lag nur die leere Tüte im Mülleimer.
Dayo konnte nicht sicher sein, ob Paul das Gebäck nicht einfach anderswo entsorgt hatte. Aber seit jenem Tag lag jeden Morgen eine weitere leere Tüte vom Bäcker im Mülleimer.
Dayo setzte sich, wie jeden Mittag, und griff in die Tüte hinein. Der Zucker klebte an seinen Fingern, als er in den Bretzel hineinbiss. Inzwischen sollte er sich an die Süße gewöhnt haben, aber noch immer verzog Dayo das Gesicht als sich der Geschmack von Zucker in seinem Mund ausbreitete.
Paul stand noch immer am Fenster und rührte in seinem Tee. Er stand jeden Mittag am Fenster. Genauso wie Dayo jeden Mittag in den Pausenraum kam, das Gebäck auf den Tisch legte und ihm eine Geschichte aus seinem Leben erzählte. Am Anfang hatte Paul versucht ihn loszuwerden. Es hatte nicht geklappt. Dann hätte Dayo versucht, Paul dazu zu bringen, sich ihm zuzuwenden. Es hatte nicht geklappt. Jetzt hatten sie mehr oder weniger die schweigende Übereinkunft, dass Dayo kam und erzählte, während Paul am Fenster stand und ignorierte. An einigen Tagen hatte Dayo das Gefühl, Paul würde ihn zuhören. An anderen Tagen dachte er eher, Paul wäre mit den Gedanken ganz weit weg.
Dayo war sich nicht sicher, was heute für ein Tag war. Paul blickte aus dem Fenster und rührte noch immer in seinem Tee. Er hatte ihn bisher noch nie getrunken, während Dayo anwesend war. Wenn er den Tee nicht riechen würde, könnte Dayo denken, Paul würde jeden Tag in dem gleichen Getränk rühren.
Die Zeit verstrich und Dayo schwieg. Das erste Mal. Vielleicht, weil ihm keine Geschichte mehr einfiel, vielleicht aber auch nur, weil er wissen wollte, was Paul machen würde, wenn er schwieg. Aber Paul tat nichts. Er stand einfach nur da und blickte aus dem Fenster. Dayo seufzte tief auf. Er sah keinen Sinn darin, zu schweigen. Also begann er schließlich doch zu erzählen:
"Mein Therapeut sagt, es hilft, Dinge aufzuschreiben, mit denen man sich beschäftigt. Vor allem, wenn man niemanden zum Reden hat. Es ist ein bisschen wie träumen, nur wenn man wach ist. Es hilft das zu verarbeiten, was man erlebt hat. Vielleicht sogar das, was man im Traum nicht gänzlich verarbeiten kann. Als Kind hätte ich gerne Tagebuch geschrieben. Manchmal erinnere ich mich, dass mein Großvater mir aus seinen Alten Tagebüchern vorgelesen hat. Aber er hat mir nie vorgelesen. Er ist bereits vor meiner Geburt gestorben. Es ist befreiend, Dinge auf Papier zu bringen und mit den Augen über das zu schauen, was man erlebt hat. Es wirkt dann abstrakt, als wäre es einem Anderen passiert. Hätte ich als Kind ein Tagebuch gehabt, wäre vielleicht vieles anders gelaufen. Ich hätte besser verarbeitet und hätte nicht solche dummen Entscheidungen getroffen. Aber Papier war teuer und selbst wenn ich ein Tagebuch gehabt hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, darin zu schreiben. Zu verarbeiten. Meine Kindheit war so kurz, dass sie fast nicht existiert hat. Und dennoch hatte ich nie Zeit. Aber letztendlich wäre es daran gescheitert, dass ich nicht schreiben konnte. Denn wozu sollte man so triviale Dinge lernen, wenn das einzige Ziel ist, zu überleben. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich nicht schreiben lernen müsste. Das könnte ich noch immer tun, wenn alles vorbei sei. Ich fragte sie, was wäre, wenn es niemals vorbei wäre. Wenn es kein anders oder später gäbe. Meine Mutter sah mich nur an. Sie rechnete nicht damit, dass ich jemals lernen würde, zu schreiben."
Dayo stoppte. Eigentlich hatte er noch weiter erzählen wollten, aber mit einem Mal, fehlte ihm die Kraft dazu. Paul hatte aufgehört in seiner Tasse zu rühren. Dayo aß seine Bretzel auf und ging zurück zu seiner Arbeit. Am nächsten Tag war er alleine im Pausenraum.