Als Dayo am Morgen ins Büro ging, wurde er von den Mitarbeitern skeptisch angeschaut. Sie hatten mitbekommen, dass er gestern in Pauls Büro gewesen war und es würde Dayo nicht wundern, wenn sie die wildesten Geschichten zu erzählen begonnen hatten. Dennoch grüßten ihn alle und behandelten ihn mit dem gleichen Respekt, wie alle vorherigen Tage. Dayo war ein neugieriger Mensch. Es hatte schon in seinen ersten Arbeitswochen gemerkt, dass alle einen großen Bogen um Paul machten. Als ihm angeraten worden war, nicht zur normalen Mittagszeit Pause zu machen, da der Pausenraum zu dieser Zeit Paul zustand, war es ihm zu bunt geworden. Lissa und Marc hatten viele wilde Verschwörungen über Paul erzählt, aber Dayo hatte zu lange im Bürgerkrieg gelebt, um Gerüchten glauben zu schenken. Nach den Erzählungen war Paul etwas zwischen nicht menschlich und einem Psychopath. Einige behaupten sogar, er hätte seine Partnerin eines Nachts erstickt. Dayo wusste nicht viel über Paul. Bloß das er derjenige war, der dafür gesorgt hatte, dass sein Asylantrag angenommen worden war. Er empfand soetwas wie Dankbarkeit gegenüber dem Mann.
Als er gestern also aus einer Intuition an dessen Büro geklopft hatte, wollte er ihm nichts vorwerfen. Er wollte lediglich erfahren, was an den Gerüchten dran war. Allerdings gab er zu, dass der Mann ihm durch sein strenges Äußeres und die fehlende Wohnlichkeit seines Büros durchaus etwas Angst gemacht hatte. Vielleicht Garde deshalb, weil er normalerweise nicht vor vielen Angst hatte. Er war schimmern Menschen begegnet und konnte sich heute seine Reaktion nicht gänzlich erklären. Stattdessen hatte er den ganzen Tag und die Nacht über dessen Vergleich nachdenken müssen. Warscheinlich war Paul nicht bewusst gewesen, wie viel er mit diesem kleinen Wort über sich preisgegeben hatte. Deshalb war Dayo auch zu dem Entschluss gekommen, dem Mann, der ihm zu einem neuen Leben verholfen hatte, eine Chance zu geben. Viel schlimmere Menschen hatten sich schon zum besseren gewendet und Dayo war sich sicher, dass das Meiste, was über Paul erzählt wurde, nicht der Wahrheit entsprach. Und selbst wenn, so hatte dieser die Möglichkeit verdient, seine Seite der Geschichte zu erzählen.
Tatsächlich war Paul der Einzige im Pausenraum, als Dayo Mittags seine Pause machte. Er hatte Berliner dabei, obwohl er mit dem Gebäck eigentlich nichts anfangen konnte. Es war ihm zu süß. Dennoch wusste er aus Erfahrung, wie viel essen bewirken konnte. Auch wenn es hier im Überschuss vorhanden war.
Paul schien ihm zunächst gar nicht zu bemerken. Zu fokussiert war er darauf, seinen Tee aufzubrühen und sinnlos mit dem Löffel in dem heißen Wasser zu rühren.
"Ich habe Berliner dabei. Möchtest du auch einen?", fragte Dayo und bemerkte, wie der Angesprochene zusammen zuckte und sich langsam zu ihm umdrehte.
"Was tust du hier?"
Pauls Stimme klang ebenso kalt wie am vorherigen Tag, aber Dayo war sich sicher, dass er noch andere Emotionen in Pauls Gesicht würde lesen können, wenn er ihn nur besser gekannt hätte.
"Das ist ein öffentlicher Raum hier. Es ist Mittag. Ich mache Pause."
Verachtend sah Paul ihn an.
"Willst du nicht dahin zurückkommen, wo du hergekommen bist?"
Er machte durch seine Betonung deutlich, dass er nicht Dayos Büro meinte. Aber davon ließ sich Dayo nicht abschrecken. Er hatte in seinem Alltag mit schlimmeren Dingen zu kämpfen.
"Eigentlich", sagte er und legte die Berliner auf den Tisch. "Gefällt es mir hier."
Brummend wandte Paul sich ab.
"Da wo ich herkomme, ist der Winter härter", begann er von neuem und war sich sicher, dass Paul ihm zuhörte, obwohl er desinteressiert seinen Körper angewandt hatte. "Nicht, weil es kälter wäre, sondern weil die Menschen weniger haben. Die Meisten haben nur sich selbst und einander. Als ich klein war, hat meine Mutter meiner Schwester einen Schal gestrickt. Es war Wolle aus alter Kleidung, die nicht mehr tragbar war. Als meine Schwester Wasser holen ging, kehrte sie nicht zurück. Als wir sie fanden, waren ihre Lippen blau und ihr Blick starr. Der Schal war weg. Vielleicht wurde sie deswegen ermordet, vielleicht aus einem anderen Grund. Damals konnte ich nicht verstehen, dass sie weg war. Ich wusste nicht, was der Tod bedeutet. Aber als ich älter wurde, erkannte ich, dass ihr Schicksal warscheinlich besser war, als das vieler anderer Mädchen in ihrem Alter. Ich möchte damit nicht sagen, dass ihr Tod gut war. Aber vielleicht die weniger schlimme Alternative."
Dayo stoppte und nahm sich einen Berliner. Der Geschmack verteilte sich ekelig süß auf seiner Zunge.
Paul drehte sich zu ihm um. Seine Augen zusammengezogen.
"Was willst du damit andeuten."
Dayo zuckte mit den Schultern. Die Geschichte war ihm einfach in den Sinn gekommen. Er ließ die Tüte mit dem übrigen Berliner zurück und verließ den Pausenraum. Für heute hatte Paul genug Gesellschaft. Morgen wurde ihm eine weitere Geschichte einfallen.
Denn Dayo wusste, dass es Menschen auf dieser Welt gab, denen Menschlichkeit kein Begriff war. Paul war keiner dieser Menschen.