Zum ersten Teil von Dayo und Paul:
Zum vorherigen Teil von Dayo und Paul:
https://belletristica.com/de/books/29202-60-minuten-challenge/chapter/151608-affront-paul-und-dayo-6
Dayo wusste nicht, wohin mit sich. Seine Finger zuckten unnütz über die Tastatur und zum wiederholten Male löschte er den Beginn des Berichts, den er bis morgen einreichen musste. Obwohl Paul bereits einige Tage wieder zurück war, ging Dayo sein Kollege einfach nicht aus dem Kopf. Er wusste, dass es besser war, dass er sich von ihm abgewandt hatte. Aber dennoch blieb das Gefühl, dass der Andere seine Hilfe brauchte. Vielleicht war Hilfe auch das falsche Wort, aber in jedem Fall war es nicht nur für ihn offensichtlich, dass Paul einsam war. Um das zu erkennen, musste man kein Psychologe sein. Dazu reichte ein wenig Menschenkenntnis. Und Menschenkenntnis besaß Dayo leider im Überfluss. In seinem Leben hatte er schon zu viel gesehen und erleben müssen, um Menschen nicht einschätzen zu können. Erneut löschte er den Beginn von seinem Bericht und schlug frustriert auf den Tisch. Sein Blick schnellte zur Uhr und es wurde ihm klar, dass Mittag war. Jene Zeit, in der Paul den Pausenraum stets für sich beanspruchte. Jene Zeit, die normalerweise Dayo damit verbrachte, Paul Geschichten zu erzählen. Oder in den letzten Tagen blicklos aus dem Fenster zu starten. Seit Paul wieder da war und Dayo sich entschlossen hatte, dass es besser für ihn war, sich von seinem Kollegen fernzuhalten, hatte Dayo den Pausenraum nicht mehr betreten. Dayo wusste, dass es nicht zielführend war, Paul einfach den Pausenraum zu überlassen. Aber eigentlich hatte er das auch gar nicht. Gestern Mittag konnte Dayo es nicht mehr aushalten und hatte doch einen Blick riskiert. Der Pausenraum war verweist. Einzig das zuverlässige Tippen, welches aus Pauls Büro drang, ließ den Schluss zu, dass Paul nicht wieder verschwunden war. Dayo raufte sich die Haare und ging zum Fenster. Ihm sprang das Plakat von ihrem ersten Gespräch an und unwillkürlich wurde er zurückversetzt. Damals war er einfach nur neugierig auf den Kollegen gewesen, den die anderen als Monster bezeichneten. Hätte er nicht an seine Tür geklopft, wäre es wahrscheinlich leichter gewesen, sich einzureden, dass Paul nur jenes Monster war. Aber Dayo verurteilte Menschen nicht gerne. Dazu wurde er in seinem Leben selbst viel zu oft verurteilt. Also hatte er Paul diese Chance geben wollen. Jetzt sah er Paul als der Mensch, der er war und aus Selbstschutz war seine Entscheidung trotz allem die Richtige. Paul wollte ihn von Anfang an nur loswerden. Es hätte Dayo klar sein müssen, dass sich manche Menschen nicht öffnen ließen. Nur bei Paul dachte er, dass er es vielleicht schaffen würde. Vielleicht, weil er ihn an etwas erinnerte, was Dayo selbst nicht ganz zuordnen konnte. Obwohl Dayo derjenige war, der letztendlich Pauls Wunsch nachgekommen war, vermisste er ihre gemeinsame Mittagspause. Es machte nie etwas ausgemacht, das nur er derjenige war, der die Geschichten erzählte. Manchmal tat es unglaublich gut, wenn einfach jemand da war und zuhörte. Dayo war sich sicher, dass Paul unglaublich viel geredet hätte, wenn sich Dayo dadurch früher abgewandt hätte. Bei dem Gedanken musste Dayo leicht wehmütig lächeln. Aber er wusste, dass es besser so war. Für sie beide. Dayo setzte sich wieder an seinen Bericht und seine Finger schwebten noch suchend über den Buchstaben, als es an der Tür klopfte. Wissend blickte Dayo auf und musste erneut an ihr erstes Aufeinandertreffen denken. Als er nichts sagte, wurde die Tür aufeinmal aufgerissen und krachte mit voller Wucht gegen die Wand im Inneren des Büros, wodurch Dayo zusammenzuckte. Seine Finger ballten sich über der Tastatur zu Fäusten zusammen und er drehte sich betont ruhig zu Paul um, der nun etwas verloren in der Tür stand. Natürlich kam er weder auf Idee, sich für sein unaufgefordertes Eintreten, noch für die Tür zu entschuldigen.
"Was kann ich für dich tun?", fragte Dayo und verzog seinen Mund zu einem leichten Lächeln, welches seine Tonlage Lügen strafte.
Paul blieb an Ort und Stelle stehen und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das Andere. Schließlich hob er eine braune Tüte an. Dayo konnte sich denken, was der Inhalt war, aber das machte keinen Unterschied. Also wandte er sich einfach wieder sein Bericht zu und drückte dabei die Buchstaben etwas stärker als nötig herunter, wodurch außenstehende den Eindruck gewinnen könnten, als wolle er bis zum Erdmittelpunkt durchdringen.
"Ich habe Nussecken dabei."
Dayo blickte auf und drehte sich erneut zu Paul um.
"Der Pausenraum ist frei, wie jeden Mittag, seit du ihn für dich beansprucht hast."
Ein Schweigen stellte sich ein. Dayo ließ Paul nicht aus den Augen. Er wusste nicht, was er mit dieser Geste bezwecken wollte. Sein Ziel hatte er doch längst erreicht.
Schließlich wandte Paul sich ab und verließ den Raum. Die Tür ließ er offen. Kurz bevor er aus dem Blickfeld verschwand, drehte sich Paul noch einmal um. Seine Worte waren fast nicht zu verstehen.
"Aber er ist leer."
Perplex blickte Dayo Paul hinterher, bis dieser endgültig aus seinem Blickfeld verschwand. Obwohl es gegen jede Logik verstieß, fühlte Dayo sich auf einmal schuldig. Und dieses Gefühl machte ihn unglaublich wütend. Eigentlich war er nicht der Typ dafür, der seinen Gefühlen überstürzt Ausdruck verlieh. Aber in diesem Moment war es ihm einfach unmöglich, sich wieder auf seinen Bericht konzentrieren. Also sprang er auf und lief Paul nach.
"Was soll das?", rief er durch den ganzen Flur und sah, wie Paul stehen bleib und sich langsam umdrehte. Sein Gesicht war wieder verschlossen und erst jetzt bemerkte Dayo, wie verletzlich Paul zuvor gewesen war.
"Lass es einfach. Es ist besser so wie es ist."
Pauls Stimme schnitt wie Eis durch den Flur. Ungläubig blickte Dayo zu Paul. Dessen Hand krampfte um die Tüte mit den Nussecken. Als würde sie das Einzige sein, was ihn noch aufrecht hielt. Und vielleicht war sie das.
"Was willst du eigentlich von mir?", fragte Dayo und dabei klang er nicht minder verzweifelt als er sich fühlte.
Paul schloss kurz die Augen und schüttelte dann den Kopf. Aber das war Dayo nicht genug.
"Seit unserem ersten Gespräch willst du mich loswerden. Das ist dir doch gelungen. Also was verdammt willst du jetzt noch von mir?"
Dayos Stimme schwoll an und es wurde ihm zunehmend egal, ob ihre gemeinsamen Kollegen ihrer Unterhaltung lauschen würden.
Erneut schüttelte Paul den Kopf und in diesem Moment wurde Dayo bewusst, dass das Kopfschütteln nicht eine Verweigerung einer Antwort war. Das Kopfschütteln war die Antwort. Paul wusste es selbst nicht.
Intuitiv trat Dayo einen Schritt auf Paul zu und dieser wich zurück, als habe er vor Dayo etwas zu befürchten. Noch bevor Dayo etwas sagen konnte, drehte sich Paul um und verließ fluchtartig den Flur. Die Tüte mit den Nussecken ließ er achtlos fallen als habe er sich verbrannt.
Dayo blieb im Flur zurück. Er wusste, dass Paul nicht wollte, dass er ihm folgte. Aber er wusste generell nicht viel über Paul. Dayo dachte immer, er besäße eine gute Menschenkenntnis. Aber bei Paul stieß er an seine Grenzen. Langsam schritt Dayo den Flur entlang und hob die Tüte vom Bäcker auf, die Paul fallengelassen hatte. Langsam ging er in den Pausenraum und legte eine der Nussecken auf einen Teller. Diesen stellte er an den Platz vor dem Fenster, an dem Paul normalerweise stand. Daneben eine Tasse mit einem Teebeutel. Vielleicht würde Paul zurückkehren und seine Geste verstehen. Vielleicht auch nicht. Letztendlich war es egal.