Der junge Mann betritt einen breiten, stickigen Raum. Zunächst erblickt er einen kleinen Tisch, an dem drei Personen sitzen. Eine Frau und zwei Männer. Die Männer bestimmt doppelt so alt wie die Frau. Unruhig wischt sich der Mann seine schweißnassen Hände an der Hose ab und tritt unaufgefordert näher. Die Frau blickt auf ein Klemmbrett hinab.
"Gabriel Kehrt, richtig?", fragt sie nach und zieht die Augenbrauen skeptisch zusammen.
"Ich bin wegen dem Vorsprechen hier."
Gabriels Stimme klingt dünn. Die Frau macht eine Ausschweifende Bewegung mit ihrem Arm, als sei es offensichtlich, dass er dafür hier wäre.
"Für welche Rolle willst du vorsprechen?"
Gabriel wippt unruhig auf und ab. Eigentlich müsste das auf dem Zettel der Frau stehen.
"Für den Wilfried."
Jetzt stockt die Frau und einer der Männer unterdrückt ein Schnauben, als würde er es für sehr unwahrscheinlich halten, das der junge Mann vor ihm auch nur annähernd für die Rolle des Wilfrieds geeignet sein.
"Dann mach mal die Szene mit dem Olaf."
Panisch sieht Gabriel auf.
"Ich dachte, ich halte einen seiner Monologe. Hier ist doch gar kein Olaf."
Die Frau in der Mitte lacht.
"Willst du jetzt die Rolle, oder nicht?"
Das ist der Mann links.
Gabriel nickt hastig und wendet sich einem imaginären Olaf rechts von ihm zu.
"Olaf, ich muss dir etwas beichten."
Gabriels Stimme zittert. Vielleicht gehört das sogar zur Rolle. Er wartet einige Sekunden, weil er weiß, wie viel Zeit Olafs Antwort etwa in Anspruch nehmen würde. Bevor er jedoch fortfahren kann, wird er unterbrochen.
"Wird das heute noch was?"
Diesmal ist es der Mann links, der spricht. Hastig fährt Gabriel fort.
"Sei mir bitte nicht böse, ich habe unglaublich Angst vor deiner Reaktion."
Diesmal ist es die Frau in der Mitte, die Gabriel unterbricht.
"Was soll das? Bist du etwa auf den Mund gefallen? Du sollst deinem besten Freund etwas beichten. Etwas mehr Elan erwarte ich!"
Gabriel kneift die Lippen zusammen, wie, um eine unerwünschte Erwiederung zu unterdrücken. Aber wer heißt denn auch schon Olaf?
"Ich bin schwul!"
Diesmal ist Gabriels Stimme lauter als beabsichtigt und er schreit fast. Der Stuhl der Frau wird zurückgeschoben und sie kommt hinter ihrem Tisch hervor.
Langsam geht sie auf ihn zu, als würde sie mit einem kleinen Kind reden wollen.
"Weißt du", sie blickt auf ihren Zettel. "Gabriel? Ich denke die Rolle ist nichts für dich."
Hilfesuchend schaut die Frau zu den beiden Männern, von denen einer nur mit den Schultern zuckt.
"Vielleicht wäre die Rolle des Angstpatienten eher etwas für dich? Der hat nur einen Auftritt."
Gabriel ballt beide Hand zu einer Faust.
"Was ist bitte mein Problem mit meiner Darstellung als Wilfried? Ich konnte nicht einmal zwei ordentliche Sätze zu dem blöden nicht existierenden Olaf sagen."
Gabriels Stimme klingt angespannt.
Die Frau blickt abschätzend an Gabriel auf und ab und schüttelt dann den Kopf.
"Schau dich doch Mal an. Du kannst du Rolle des Schwulen einfach nicht verkörpern."
Fassungslos blickt Gabriel zu den beiden Männern, die das ganze aber eher interessiert zu betrachten scheinen.
"Und was ist bitte das Problem an mir?"
Der junge Mann hat eine unterdrückte Wut in der Stimme, aber seine Hände sind nun entspannt.
"Du wiegst offensichtlich zu viel. Das ist nicht realistisch. Und schau dir deine Haare an, stumpf braun. Vielleicht könnte es realistischer wirken, wenn du dich schminkst und ein bissen mehr beim Gehen die Hüften schwingst. Außerdem redest du zu normal."
Unwillkürlich ist Gabriel einen Schritt zurückgetreten.
"Ist das ihr verdammter Ernst? Ich bin ihnen nicht schwul genug, für die Rolle des Wilfried? Die vorherige Bewerberin für den Wilfried war weiblich!"
Die laute Stimme hallt unangenehm in dem Raum wieder.
"Ja, aber sie hatte kurze Haare."
Unwillkürlich fährt sich Gabriel mit seiner Hand durch sein etwas längeres Haar. Aber bevor er etwas erwiedern kann, fährt die Frau fort.
"Außerdem kauft dir niemand ab, dass du beliebt wirst. Das geht einfach nicht. Manche Menschen bleiben immer Looser."
Aufeinmal tritt ein verrückter Glanz in Gabriels Augen.
"Wissen sie was, ich will diese beschissene Rolle gar nicht mehr. Eigentlich dachte ich, dass Stück wurde ein bisschen reflektierend sein. Aber wenn sie die Schauspieler aussuchen, kann es ja nur scheiße werden. Stecken sie sich ihre Schminke und sonstigen Vorteile sonst wohin! Mir ist das hier zu blöd."
Mit diesen Worten dreht sich Gabriel um und verlässt voller Wut den Raum. Die Tür fällt mit einem Knall hinter ihm zu.
Einer der Männer hinter dem Schreibtisch geht auf die Frau zu und legt ihr eine Hand auf den Arm.
"Vielleicht könnten wir ihm die Rolle des Vergewaltigers anbieten. Er hat grade so verrückt gewirkt."
Missmutig schüttelt die Frau den Kopf.
"Zu klein."
Einige Minuten später geht die Tür erneut auf. Gabriel betritt den Raum. Eine Tasche hängt über seiner Schulter und ein leichtes lächeln liegt auf seinem Gesicht. Seine Haare sind jetzt ordentlich zusammengebunden und warscheinlich hätte er mit dieser selbstbewussten Haltung mehr den Anforderungen entsprochen. Aber das musste er gar nicht.
Eine weitere Tür des Raumes geht auf und drei weitere Personen treten ein. Zwei ältere Frauen und ein Mann, der nur unbedeutend jünger ist. Eigentlich ein Wunder, dass sie so ein progressives Stück auf die Beine stellen.
Alle drei beginnen zu Klatschen und letztendlich ist es der jüngere Mann, der zu sprechen beginnt.
"Das war großartig. Ich denke Ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass ihr in jedem Fall ins Ensemble aufgenommen seit."
Grinsend dreht sich Gabriel herum, aber seine Freundin ist bereits auf ihn zugerannt und umarmt ihn so heftig, dass er einige Schritte zurücktaumelt.
Eine der älteren Frauen lacht.
"Wenn ihr die Rolle so auf der Bühne spielt, wie eben, dann kommt niemand auch nur auf die Idee, dass ihr Freunde sein könntet."
Die junge Frau lacht ebenfalls und lässt sich von Gabriel einen Kuss auf die Wange drücken.
"Das ist ja das Ziel der Sache!"
Gabriel wendet sich an seine Freundin.
"Und außerdem würde ich sofort unsere Freundschaft kündigen, wenn ich wüsste, dass du deine Äußerungen ernst gemeint hättest."
Obwohl Gabriels Freundin lächelt sind ihre Augen ernst, als sie antwortet:
"Das will ich doch hoffen."