"Er ist ihre Sonne in der Dunkelheit
Wenn sie nicht mehr weiterweiß
Er ist ihr Stern in der Nacht
Wenn er wieder mit ihr lacht
Er ist ihr Lichtblick in der Welt
Der sie stets am Leben hält
Er ist ihr Seil, dass sie verbindet
Wenn ein Sturm sie sonst verwindet
Er ist ihr Leben in ihrem Sterben
Wartend stets drauf, neu zu werden."
Applaus erklingt und ich blicke skeptisch zu meiner Freundin hinüber, die voller Elan in den Applaus einstimmt.
"Das war schrecklich", raune ich ihr zu und mache eine Geste, die veranschaulichen soll, dass ich mich übergebe.
Empört blickt sie mich an.
"Das war großartig", entegenet sie. "Vor allem die letzten beiden Verse: Er ist ihr Leben in ihrem Sterben, wartet stets drauf, neu zu werden."
Ihre Stimme nimmt eine sehnsüchtige Tonlage an und ich rümpfe die Nase. Als ich sie dazu überredet habe, zu den Poetry Slam mitzukommen, habe ich weder damit gerechnet, dass es ihr gefallen könnte, noch damit, dass so schlechte Gedichte vorgetragen werden. Aber was konnte man von der Germanistik Fachschaft schon erwarten. Da war die Gerechtigkeitstheoretische Ausführung der Philosophie Fachschaft eine Glanzleistung gegen. Und da musste ich schon aufpassen, nicht einzuschlafen.
Aber im Gegensatz zu letztem Jahr, hatten einige Teilnehmer auch das Prinzip eines Poetry Slams nicht ganz verstanden. Jedenfalls konnte ich mir sonst nicht erklären, warum die Chemie Fachschaft ein Experiment vorgeführt hat. Immerhin hat es ordentlich geknallt. Aber im großen und ganzen ist der Abend doch ganz unterhaltsam. Ich blicke kurz in das Programm.
"Nach der Pause kommen noch zwei Beiträge von der Mathefachschaft und einer von der Englischfachschaft. Es gibt viel Luft nach oben."
Meine Freundin stupst mich an.
"Jetzt sei doch nicht so angespannt und lass dich einfach drauf ein. Schließlich bin ich deinetwegen hier, also genieß es auch ein bisschen."
Ich brumme abwehrend. Eigentlich sind wirklich nicht die Beiträge der Teilnehmer Schuld an meiner Laune, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Englisch Fachschaft meinen Beitrag abgelehnt hatte. Es hätte ja auch vorher mal jemand sagen können, dass der Beitrag auf Englisch sein musste.
"Soll ich dir was mitbringen?", fragt mich meine Freundin und deutet auf die improvierte Bar, die am Ende des Hörsaals aufgebaut ist. Ich nicke. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, dass es bald weitergehen dürfte. In diesem Moment lässt sich ein junger Mann neben mir nieder.
"Hey", beginnt er ein Gespräch.
"Was?"
Meine Stimme klingt aufgebracht.
"Ich bin Marc."
Ich nicke verstehend und wende desinteressiert den Kopf ab.
"Du bist Robin oder?", fragt er nach und ich nicke leicht. Es geht ihn nichts an.
"Wir sind im gleichen Seminar über motorische Entwicklung bei Kindern."
Ich denke kurz halbherzig nach, kann mich aber nicht an einen Marc erinnern.
"Wir haben das Referat zusammen gemacht."
Noch immer macht nichts bei mir Klick.
"Das über das Stehen mit Hilfe."
"Ahh."
An das Referat kann ich mich erinnern. An ihn nicht.
Ich weiß nicht genau, was er von mir will, aber letztendlich ist es mir egal. Warscheinlich bin ich nicht fair zu ihm, aber auch ich habe man das Recht auf schlechte Laune. Philosophisch warscheinlich sehr kritisch zu betrachten. Jedenfalls wenn es nach dem Gerechtigkeitsvogel ginge. Aber besser als das ich gleich explodieren wie das Experiment.
Zum Glück kommt in diesem Moment meine Freundin wieder und reicht mir eine Cola, weil sie weiß, dass ich noch fahren muss. Ansonsten hätte er mir warscheinlich noch ein Gespräch aufgezwungen. Manche Menschen verstanden einfach nicht, dass andere kein Interesse hätten.
Der Fremde, Marc, bleibt neben mir sitzen. Das Licht wird gedämmt und ich blicke auf die Uhr. Noch eine Stunde. Mir kommt ein Vers des Gedichtes in den Sinn.
Er ist ihr Lichtblick in der Welt
Der sie stets am Leben hält
Ich schnaube. Mein einiger Lichtblick ist inzwischen, dass diese elendige Veranstaltung in einer Stunde endlich ein Ende hat und ich mich in Ruhe in meinem Bett verkriechen kann.