Drei Wochen zuvor.
Die Wolken hingen tief am Himmel und ließen seit vielen Tagen keinen einzigen Sonnenstrahl hindurch. Paul wusste nicht genau, was er hier tat, aber in jedem Fall trug die undurchdringliche Wolkendecke nicht dazu bei, dass er sich wohler fühlte. Er saß vor einem Schreibtisch und seine Finger tippten unruhig auf der altmodischen Tischplatte auf und ab. Wenn Paul sich etwas vorbeugte, sah er Fotos von einer Frau und drei Kindern verschiedenen Alters. Wenn Paul hier arbeiten würde, hätte er sicher keine Fotos von seiner Familie auf dem Tisch stehen. Aber warscheinlich sollte das dazu beitragen, dass die Patienten sich wohl fühlten, ebenso wie die warme Lampe mit einem altmodischen Lampenschirm. Dies trug jedoch eher dazu bei, dass Paul sich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt fühlte.
Als die Tür endlich aufging, gab Paul sich keine Mühe zu verschleiern, dass er sich sich die Fotos in Ruhe angeschaut hatte und drehte sie in aller Ruhe zurück. Ebenfalls gab er sich keine Mühe aufzustehen, um den Mann zu begrüßen, als dieser ihm seine Hand entgegen streckte. Vielmehr verschränkte er provokant seine Arme vor der Brust. Schulterzuckend ging der Mann auf seine Seite des Schreibtisch und setzte sich in einen bequemen Sessel aus Leder, der bestimmt kein Vertrauen bei Veganern weckte.
"Wenn ich ehrlich bin", begann der Mann langsam, als würde er mit einem kleinen Kind reden. "Hätte ich nicht erwartet, Sie nach den vielen Jahren wiederzusehen."
Paul schnaubte. Er hatte noch viel weniger damit gerechnet. Der Mann lachte leicht auf.
"Ich hätte eher damit gerechnet, dass man Sie früher oder später tot in einem Flussbett schwimmend, als menschlicher Brei unter einem Hochhaus oder zerquetscht in einer Müllpresse finden würde. Die letzte Alternative würde warscheinlich am besten zu Ihnen passen."
Paul schwieg. Sein Psychiater war wohl mit den Jahren immer schlechter geworden. Schon in Pauls zwanzigern hatte er Paul nicht unter Kontrolle bekommen. Damals hatte Paul es auf das Alter des jungen Psychiaters geschoben, dass er nicht damit umgehen konnte, wie Paul mit ihm umging. Heute verfolgte sein Psychiater anscheinend eine andere Strategie. Anscheinend wollte er seine Patienten loswerden. Oder er dachte, dass die Beschreibung von Selbstmord Menschen davon abhalten würde. Dann hätte er etwas grundlegendes in seinem Studium verpasst. Aber Paul sollte egal sein, was sein Psychiater von ihm hielt. Denn im Gegensatz zu damals, war er jetzt freiwillig hier.
"Was hat Sie dazu bewogen, hier her zurück zu kehren?"
"Ein Kollege von mir"- Paul konnte sich nicht dazu durchringen, dass Wort Freund zu benutzen- "sagte, es würde helfen, über Dinge zu reden."
Der Psychiater schaute Paul nachdenklich an, als könnte er alleine an dessen Gesicht eine Diagnose stellen. Paul wusste den Namen des Mannes vor ihm nicht mehr, obwohl die Dame an der Rezeption ihm diesen wohl mitgeteilt haben musste. Paul vergaß gerne unwichtige Dinge.
"Ihr Kollege ist ein kluger Bursche. Wobei, warscheinlich nicht, wenn er mehr als nötig mit ihnen redet."
Paul unterließ es, seine Augen zu verdrehen. Das wäre verschwendete Energie.
"Also", der Mann begann in seinen Aufzeichnungen zu blättern."Wo waren wir damals stehen geblieben."
Paul unterdrückte die zynische Antwort, dass er seine zwölf verordneten Sitzungen größtenteils geschwiegen hatte und danach ebenso wortlos von der Bildfläche verschwunden war.
"Ihre Mutter", begann der Psychiater, aber bevor er weiter reden konnte unterbrach Paul ihn, indem er eine Hand auf die Unterlagen auf dem Tisch knallen ließ.
"Ich bin nicht wegen der Vergangenheit hier."
Seinem Psychiater entlockte er damit nur eine gehobene Augenbraue.
"Alle sind wegen der Vergangenheit hier."
Paul schweig. Er hatte sich das ganze leichter vorgestellt. Wobei um ehrlich zu sein, hatte er sich das ganze gar nicht vorgestellt. Es war eine Kurzschlussreaktion von ihm gewesen. Eine, die er jetzt bereute.
Also stand er auf. Sein Psychiater hielt ihn nicht auf.
"Sie haben eine nette Familie", sagte Paul, als er sich noch einmal umdrehte. Er wollte dem Mann vor ihm Angst machen. Vielleicht würde er dann merken, dass es keine gute Idee war, seine Familie auszustellen.
"Sie werden wiederkommen."
Paul lachte auf. Warscheinlich würde er alleine aus dem Grund nicht wiederkommen, weil sein Psychiater davon ausging. Die Idee mit der Müllpresse war gar nicht so uninteressant. Aber der Psychiater hatte unrecht. Das passte nicht zu ihm. Wenn er sich umbrachte, dann würde er es seinem Vater nachmachen.
Am Ende behielt der Psychiater Recht. Paul kam wieder.