"Es war einmal, vor langer Zeit in einem weit entfernten Königreich. Dort herrschte eine böse Königin voller Boshaftigkeit über das Volk."
Skeptisch sah das Mädchen, was eigentlich schon ein bisschen zu alt für Märchen war, zu ihrem Vater auf.
"Warum ist denn die Königin die Böse und nicht der König?", fragte sie nach, indem sie ihren Vater unterbrach. Dieser rückte nun seine Brille zurecht, bevor er leicht hilflos mit den Schultern zuckte. Schließlich erhellte sich jedoch sein Gesicht.
"Weißt du", begann er seiner Tochter zu erklären. "Der König hat sich ebenfalls auf diese Rolle beworben. Aber bei gleicher Eignung und Befähigung sind nunmal Frauen vorzuziehen. Also hat die Königin den Job bekommen."
Das Mädchen dachte einige Sekunden über das Gesagte nach und erst, als es zufrieden mit der Information war, fuhr der Vater mit dem Märchen fort.
"Mit ihren bösen Hexenkräften unterdrückte sie ihr Volk und ließ keine Meinung, außer ihrer eigenen gelten. Aber in den tiefesten Tälern des Königreichs lebte eine junger Prinz, vollkommen reinen Herzens."
Nun war die Miene des Mädchens nicht nur skeptisch. Im nächsten Satz unterbach sie ihren Vater erneut.
"Warum muss der Prinz eigentlich immer jung sein? Sind alte Menschen nicht reinen Herzens? Opa ist doch auch ein guter Mensch!"
Lächelnd sah der Vater auf seine Tochter hinab und legte kurz den Kopf schief.
"Also gut. Aber in den tiefesten Tälern des Königreichs lebte ein alter Prinz, vollkommen reinen Herzens. Er konnte das Volk nicht so leiden sehen und beschloss, etwas gegen die Ungerechtigkeit zu unternehmen."
Diesmal hielt der Vater von selbst inne, denn er erahnte, dass seine Tochter wieder einen Einwand haben würde. Er irrte sich nicht.
"Aber Papa, wer entscheidet denn, was gerecht ist?"
Diesmal hatte sich der Vater eine schlüssige Antwort überlegt. Also hob er nur abwartend die Hand und fuhr fort.
"Der alte Prinz wusste, dass er allein keine Chance gegen die böse Königin haben würde. Also beschloss er, sich Hilfe zu holen. Tagelang durchquerte er Täler und bestieg Berge. Passierte Flüsse und Seen, bis er schließlich an einer alten Hütte, tief im Wald ankam."
Aufgeregt knabberte das Mädchen an ihrer Unterlippe.
"Dort tagte das Ehtikkommitee des Königreichs."
Jetzt zog das Mädchen eine Schnute und deutete anklagend auf ihren Vater.
"Aber wenn die Königin böse ist, warum sollte sie dann ein Ehtikkommitee erlauben?"
Nachdenklich legte der Vater den Kopf schief. Schließlich kam ihm eine Idee.
"Die weisen Männer und Frauen des Ehtikkommitees waren geflohen, als sie von den bösen Taten der Königin erfuhren, um ihre Weisheit vor schlechten Einflüssen zu schützen."
Doch das stimmte das Mädchen nicht zufrieden.
"Aber sind sie dann noch weise, wenn sie einfach so vor Unangenehmen weglaufen?"
Der Vater zuckte mit den Schultern.
"Letztendlich müssen sie das nicht sein. Es reicht, dass der alte Prinz sie für weise hält."
Das Mädchen nickte und forderte ihren Vater auf, fortzufahren. Dieser kam ihrer Aufforderung nach.
"Der alte Prinz sah dichten Rauch aus dem Schornstein des Hauses aufsteigen und traf innen auf die weisen Männer und Frauen des Königreichs. Er bat sie um Hilfe. Aber sie konnten ihm nicht helfen. Denn gäbe es eine Möglichkeit, hätten sie sie längst selbst ergriffen."
Das Mädchen zog beleidigt die Unterlippe vor.
"Wenn sie es gewollt hätten, hätte es bestimmt eine Möglichkeit gegeben."
Der Vater schmunzelte nur über den Trotz seiner Tochter und fuhr fort.
"Ernüchternd ging der alte Prinz wieder fort. Aber er war nicht bereit, das Volk aufzugeben. Er hörte von einem mächtigen Zauberer, am Ende des Königreichs und beschloss diesen aufzusuchen."
"Papa", warf das Mädchen erneut ein und zog die letzte Silbe in die Länge. "Gab es hier keine Frau mit passender Befähigung?"
Verschwörerisch zwinkerte der Vater.
"Vielleicht."
Obwohl das Mädchen nicht zufrieden war, nahm es das so hin. Denn es wusste, dass es keine weiteren Informationen aus ihrem Vater herausbekommen würde.
"Also nahm sich der alte Prinz ein junges Ross. Denn seine Knochen schmerzten und sein Rückrad krümmte sich zunehmend. Wieder durchquerte er Städte und Dörfer und Felder und Weiden, bis er an den entlegensten Rand des Königreiches kam und dort auf einen hohen Turm stieß."
Das Mädchen kniff die Augen zusammen und der Vater erahnte, was nun folgen würde.
"Ein Turm? Dein Ernst?"
Der Vater lachte und seine Tochter stimmte in das Lachen mit ein.
"Also gut. Kein Turm. Am entlegensten Rand des Königreiches stieß der alte Prinz auf eine hohe Mauer. Sie war so hoch, dass er nichteinmal den Himmel dahinter erblicken konnte. Er wusste nicht, was er tun sollte, also klopfte er einige kräftige Male gegen den groben Stein. Auf einmal wurde die Mauer ganz durchsichtig. Ein junger Mann erschien auf der anderen Seite. 'Bist du der mächtige Zauberer?', fragte der alte Prinz und besah erstaunt üppige Felder und Weiden hinter der Mauer."
Inzwischen lernte der Vater, künftige Fragen im voraus zu erkennen und zu umgehen.
"'Der bin ich', entgegnete der mächtige Zauberer und legte eine Hand auf die Mauer. 'Aber ein böser Zauber hält mich auf dieser Seite gefangen. Nur die wahre Liebe kann mich befreien!' Die Mauer verschloss sich wieder und der alte Prinz beschloss, im gesamten Königreich nach der Liebe des Prinzen zu suchen. Bis er die Frau des mächtigen Zauberers endlich zu ihm bringen könnte."
Das Mädchen sah ihren Vater herausfordernd an. Diesmal musste sie gar nicht nachfragen, damit ihr Vater verstand, was sie meinte."
"Im ganzen Königreich beschloss der alte Prinz nach der Liebe des mächtigen Zauberers zu suche. Er würde die Liebe des Prinzen unter all den Menschen des Königreichs finden und dem mächtigen Zauberer bringen, damit dieser mit seinem Herzensmensch glücklich werden könnte."
Mit der Formulierung zufrieden, nickte das Mädchen.
"Aber die Suche des alten Prinzen wurde mit jeder Stadt und jeder Ortschaft die er durchquerte, schwieriger. Schließlich blieb ihm nur noch, den Hof der bösen Königin aufzusuchen. Also nahm er all den Mut zusammen, den er besaß und reiste voller Tatendrang in die Hauptstadt."
Mit großen Augen erwartete das Mädchen den Ausgang des Mädchens.
"Die Hauptstadt blühte vor Leben und der alte Prinz konnte das Bild das sich ihm bot, kaum mit den Geschichten, die ihm erzählt wurden, in Einklang bringen. Nach einer weiteren erfolglosen Suche, bekam der alte Prinz Angst, dass die Liebe des mächtigen Zauberers nicht mehr lebte und das Königreich für immer verdammt war."
Der Vater merkte, dass seiner Tochter eine Frage auf den Lippen lag, die sie noch nicht zu formulieren wusste und schwieg.
"Ist der mächtige Zauberer überhaupt gut?"
Geheimnisvoll lächelte der Vater.
"Also erkannte der alte Prinz, dass seine einzige Chance, die böse Königin zu besiegen, darin bestand, selbst tätig zu werden. Er schlich sich also früh am Morgen in die Gemächer der bösen Königin. Dort traf er jedoch nur auf eine einsame, junge Frau. Sie sang leise ein ihm unbekanntes Lied und versuchte lustlos, die Träger von ihrem Hosenanzug zu befestigen. Der alte Prinz wollte wieder gehen und an einem anderen Tag die böse Königin aufsuchen, aber sein Gehstock schlug laut auf den Fliesen auf, sodass ihn die junge Frau bemerkte. 'Wer bist du?', fragte diese und der alte Prinz trat aus dem Schatten hinaus. Als der in das Gesicht der jungen Frau blickte, sah er eine tiefe Traurigkeit. Aber er erkannte etwas weiteres. Sie war die Liebe des mächtigen Zauberers. Auf einmal verspürte er wieder Hoffnung und erzählte der jungen Frau seine Geschichte. Zu spät erkannte er, dass sie auch die böse Königin war."
Das Mädchen griff nach der Hand ihres Vaters und drückte sie ganz leicht.
"Aber wenn sie die Königin ist, was macht sie dann böse?"
Der Vater antwortete nicht auf diese Frage. Das musste seine Tochter selbst herausfinden.