Paul war nicht homophob. Er hatte nichts gegen Menschen gleichen Geschlechtes, die einander liebten. Er hatte lediglich etwas dagegen, wenn er jemanden des gleichen Geschlechtes liebte. Das wirkte zwar auf den ersten Moment schon homophob, oder wenigstens so, als fände er die Vorstellung, wie zwei Männer einander liebten, ekelig. Dabei kam ihm auch nicht zugute, dass die wenigen homosexuellen Menschen, die er kennengelernt hatte, bisher einfach Arschlöcher waren. Warscheinlich machte er tatsächlich den Eindruck auf andere Menschen, dass er homophob sei. Er war jedoch nur respektlos gegenüber anderen Menschen, wenn diese sich respektlos ihm gegenüber verhielten. Paul konnte ja schließlich nichts dafür, dass diese Menschen das auf ihre Sexualität bezogen.
Paul war nicht sexistisch. Er hatte kein Problem mit Frauen. Eigentlich waren Frauen für die Gesellschaft von enormer Bedeutung. Er hatte lediglich etwas dagegen, wenn er etwas für Frauen empfand. Dabei wusste er, dass die meisten Frauen, die erkannte, deutlich intelligenter als er waren. Warscheinlich wirkte er dennoch auf die meisten sexistisch. Schließlich sah er häufig auf Andere hinab und machte ihnen deutlich, was er von ihnen hielt. Dass lediglich die Frauen sich davon angegriffen fühlten, dafür konnte Paul nichts.
Paul war nicht rassistisch. Er hatte kein Problem mit Ausländern. Aber im Gegensatz zu der Homophobie und des Sexismus, dachte auch niemand, dass er rassistisch sei. Das hing warscheinlich damit zusammen, dass er in einem Büro für Menschenrechte arbeitete und er für die Asylanträge zuständig war. Seine meiste Zeit brachte er damit zu, bei verschiedenen Botschaftern anzurufen und darum zu betteln, dass sie sich die Akten der Betroffenen wenigstens einmal anschauten. Vielleicht hing es aber auch einfach damit zusammen, dass er bisher kaum Gefühle für Menschen aus anderen Ländern entwickelt hatte. Dann würde er bestimmt auch für rassistisch gehalten werden.
Paul war nicht spezizistisch. Wobei, nein, das wäre eine Lüge. Wenn man von Paul eins behaupten konnte, dann, dass er Spezizist war. Warscheinlich fiel es nur nicht auf, weil er einen eigenen Hund hatte. Denn im Gegensatz zu Menschen, hatte er keine Probleme mit Gefühlen gegenüber Tieren.
Paul wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es an die Tür klopfte. Erst jetzt merkte er, wie tief er wieder in seinen eigenen Gedanken versunken war. Wenn er nicht so gute Arbeit geleistet hätte, war er sich sicher, dass seine Abteilung ihn bereits entlassen hätte. Nicht umsonst war er der Einzige, der Mittags im Pausenraum seinen Kaffee trank und wenn er doch Mal Mitarbeitern auf dem Flur begegneten, dann waren alle aufeinmal fruchtbar beschäftigt und wandten sich ab.
Paul wusste, was man sich über ihn erzählte. Wenn nur die Hälfte von dem, was man erzählte, wahr wäre, dann würde er nicht in einer Menschenrechtsorganisation arbeiten, sondern wäre einer der Menschen, vor denen die anderen flohen. Andererseits wusste Paul, wie viel von dem, was erzählt wurde, wahr war.
Paul hatte kein Problem mit Menschen. Das einzige Problem was er hatte, war mit sich selbst und seinen Gefühlen umgehen zu können.
Ein weiteres Klopfen holte ihn erneut aus seinen Gedanken. Jetzt wusste er wieder, was so seltsam an der Situation war. Es klopfte nie jemand an seine Tür. Nie. In den zwanzig Jahren, die er bereits hier arbeitete, war es nicht einmal vorgekommen, dass jemand an seine Tür geklopft hatte. Vielleicht war er eingeschlafen und hatte einen seltsamen Traum. Seine Stimme klang belegt, als er den Menschen vor der Tür hinein bat.
Zuerst blickte ein Kopf hinein. Dunkle Haare und eine Haut, die nur minimal heller war, als die Haare. Cremefarben würde man soetwas wohl bezeichnen. Wie ein Cappuccino. Ein Körper folgte dem Kopf des Mannes. Paul kam er wage bekannt vor. Der Mann schien etwas Angst zu haben. Da fiel Paul wieder ein, vorher er den Mann kannte. Es war einige Jahre her, dass er dessen Asylantrag bearbeitet hatte. Soweit er sich erinnern konnte, war er ein Menschenrechtsaktivist in seiner Heimat gewesen. Paul wusste nicht mehr, woher er kam. Bloß, dass sich letztendlich Schweden bereiterklärt hatte, ihn aufzunehmen. Ebensowenig wusste Paul noch, wofür sich der Mann eingesetzt hatte. Als er sich ganz in den Raum hineingeschoben hatte, fuhr er sich unsicher durch die Haare. Er wirkte jünger, als er tatsächlich war. Dabei wusste Paul, dass er in etwa in seinem Alter war.
Mit hartem Blick schwieg Paul den Mann an und deutete ihm, die Tür zu schließen, aber er mochte es nicht, bei der Arbeit gestört zu werden. Nicht, dass Paul in der letzten halben Stunde viel gemacht hatte, außer seinen Gedanken nachzuhängen, aber dass ging den anderen Mann nichts an.
Dieser schien noch nervöser zu werden, als die Tür geschlossen war. Als würde Paul jeden Moment auf ihn losgehen um ihn entweder zu ermorden, oder zu vergewaltigten. Beides unwahrscheinlich, aber vielleicht wusste Paul doch nicht alles, was in den Fluren über ihn erzählt wurde.
"Was willst du?"
Pauls Stimme klang kalt. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, Menschen zu siezen.
Der Mann rang mit den Händen. Warscheinlich hatte er in ihrer Abteilung eine Anstellung bekommen, um dort weiterzumachen, wo er in seinem Heimatland hatte aufhören musste. Einige hätten es als feige bezeichnet, den Kampf aufzugeben, aber Paul wusste um das Schicksal jener Menschen. Vielleicht hielt man ihn für homophob und sexistisch. Aber er war kein Unmensch.
"Ich wollte dich fragen", begann der Mann und Paul missfiel es, dass er ihn einfach so ebenfalls duzte. "Ob es stimmt, was man sich über dich erzählt."
Paul hob eine Augenbraue. Jetzt hatte der Mann sein Interesse geweckt. Paul mochte Menschen, die mutig waren. Das Problem war nur, dass Paul es nicht mochte, wenn er Menschen mochte.
"Was erzählt man sich denn so über mich?"
Nicht das Paul das nicht schon ahnen konnte. Aber er wollte es aus dem Mund des Mannes vor ihm hören. Unruhig blickte dieser umher, als Versuche er einen passenden Vergleich zu finden. Anscheinend war das tatsächlich seine Absicht, denn schließlich deutete er zum Fenster.
"Das Sie ", er verstummte und blickte auf den Boden. Interessant, dass er jetzt wieder zu der Höflichkeitsform übergegangen war. Jetzt hätte er auch ruhig beim Du bleiben können.
Pauls Blick viel auf die Eiszapfen, die am Fensterüberstand hingen. Der Vergleich passte auf eine eigenartige Weise wirklich gut. Paul war kalt und wenn man versuchte ihn aufzutauen und nicht aufpasste, dann verletzte er Menschen. An guten Tagen verletzte er sie nur oberflächlich. An schlechten Tagen, traf seine Spitze ins Herz. Aber noch etwas hatten er und das Eis gemeinsam. Sie waren nicht schon immer hart. Sie wurden geformt durch die Unnachgiebigkeit und Kälte der Umgebung.
"Wie ein Eiszapfen sind?", beendete Paul den Satz für seinen Mitarbeiter, der ihn daraufhin verwirrt ansah.
Anscheinend hatte er diesen Vergleich nicht gemeint. Prompt schien er noch unsicherer zu werden. Paul schaute erneut aus dem Fenster um zu erkennen, was der neue Mitarbeiter wirklich gemeint hatte. Jetzt war ihm auch klar, was er gemeint hatte. Draußen war ein Plakat angebracht, auf den in großen roten Lettern stand: Psychisch Kranken helfen! . Warscheinlich half weder die Farbe, noch, dass im Hintergrund eine Einrichtung zu sehen war, die eher aus einem Horrorfilm, als der Realität zu entspringen schien, dass sich psychisch Kranke so sicherer fühlten, sich helfen zu lassen. Paul war sich nicht sicher, ob es eine ernstgemeinte Werbung dafür war, jenen Menschen wirklich die Hilfe zukommen zu lassen, die sie brauchten, ein Kinderstreich oder eine Werbung für einen neuen Horrorfilm. Letztendlich war es Paul egal. Entscheidend war, dass der Angestellte ihm unterstellte, eine Psychopath zu sein. Langsam ballte Paul die Fäuste und versuchte, sich nicht aufzuregen. Leider knackten bei der Geste seine Finger, sodass sie durchaus bedrohlich erscheinen konnte. Der Mann mit der cremefarben Haut, sah Paul ängstlich an. Eigentlich sollte Paul froh sein, dass dieser die Sympathie direkt wieder zu nichte gemacht hatte. Er ließ sich lieber verletzen, als dass er sich gezwungen sah, andere zu verletzen. Schneller als Paul es für möglich gehalten hätte, war der neue Mitarbeiter aus Pauls Büro verschwunden.
Paul war sich sicher, dass er morgen auch Rassist wäre.
Vielleicht sollte er einfach wirklich so werden, was die Menschen ohnehin von ihm dachten. Dann würde er ihnen wenigstens ersparen, lügen zu erzählen.
Stattdessen griff er zum Telefon und setzte sich für ein Mädchen, welches Opfer von Menschenhandel geworden war.