Er hatte es ebenso wenig erwartet wie ich. Doch im Gegensatz zu mir schlug seine Verwunderung schnell in Zorn um. Ich konnte nicht hören, welche Worte er Gregor entgegen spie, nur sehen, dass der den Nacken des Jungen hart umfasste und ihn zum Mitkommen zwang. Widerwillig fügte er sich schließlich, denn bei seiner schlanken Statur hatte er keine Chance gegen den Sicherheitsmann.
Schleunigst schob ich den Einkauf in die Tasche, wünschte den Frauen einen schönen Tag, und eilte unter ihren verdutzten Blicken hinter Gregor her. Er wollte den Jungen eben in sein Büro ums Eck bugsieren, als ich angeschossen kam.
„Wo kommst du denn her, Melli?“, fragte er irritiert.
Ich musste mich zunächst sammeln und holte tief Luft, um die richtigen Worte zu wählen, die ich mir bei meiner Überstürzung nicht zurechtgelegt hatte.
„Das... ähm... ist ein Missverständnis“, hörte ich mich sagen und zeigte auf den Jungen, der mich argwöhnisch ansah. „Das ist Paul, mein Cousin.“
„Komm erst mal mit rein“, brummte Gregor, drückte den Jungen in einen der Plastikstühle und bedeutete mich daneben Platz zu nehmen.
Er selbst wuchtete seinen breiten Körper hinter den graumelierten Tisch, der den größten Teil des Raums einnahm. Quälende Sekunden vergingen, während sich die Augen des Jungen in meine Schläfe bohrten und ich krampfhaft versuchte, meine an etwas anderes zu haften. Doch da gab es nichts. Keine Bilder, kein Fenster schmückten die eng beisammenstehenden Wände. Die Ausstattung dieses Käfigs bestand lediglich aus einem Wandregal, gefüllt mit Ordnern und Schlüsseln sowie einem altmodischen Computer und Telefon in der Ecke des Tischs.
Der Geruch von Deo und süßlichem Haargel verursachte mir eine Gänsehaut. Nervös rieb ich mir die Arme und hoffte, er würde aufhören mich anzustarren, damit ich mich konzentrieren konnte.
„Dann erzählt mir mal, wie eine Packung Batterien mir nichts, dir nichts in der Hose landen kann“, begann Gregor, als er ein Formular aus der Tischschublade nahm und etwas unleserliches darauf kritzelte. Meine Lippen pressten sich aufeinander. Da der Junge keine Anstalten machte zu Antworten, begann ich mit zittriger Stimme:
„Also ich... ähm... wir waren einkaufen. Für das Café. Und mein Korb war voll... da hab ich ihn gebeten noch Batterien zu holen.“
Mit einem unzufriedenen Brummen machte sich Gregor Notizen. Einen Ladendieb zur Rede zu stellen, war für ihr kein Problem. Nur dass ich mich in die Angelegenheit einmischte, schien ihm gar nicht zu gefallen. Genervt fuhr er sich über den kaum vorhandenen Nacken.
„Hol die Packung aus deiner Tasche, Junge“, raunzte er. „Und setz dich gefälligst gescheit auf den Stuhl.“
Missmutig rutschte er von seiner lässigen Haltung in eine gerade und legte die Batterien vor sich auf den Tisch. Sie fixierten einander. Gregor mit einer unnachgiebigen Härte, um eine Aussage aus ihm herauszupressen, er mit einem gelangweilten Ausdruck, als beträfe ihn das alles gar nicht. Nur ich schien vor Anspannung zu platzen.
„Also“, plapperte ich wieder drauflos. „Ich schätze, vor lauter lauter hat er einfach vergessen, dass die noch in seiner Tasche waren. Mein Korb war voll...“ Untermauernd hielt ich die schwer bepackte Tüte hoch.
„Das war also nur ein ganz blödes Versehen.“
Gregor schnaubte in sein Formular. Ich versuchte, mein Lächeln offen und ehrlich zu halten, doch je länger er mich ansah, desto mehr gefror es. Sicher bemerkte er die Unsicherheit in meinen Augen. Wenn er mich als Lügnerin enttarnen würde, könnte ich keinen Fuß mehr in diesen Laden setzen und meine Mutter müsste sich wegen mir in Grund und Boden schämen. Das ganze Dorf würde darüber reden: Das Mahler-Mädchen, Komplizin eines Diebstahls.
Er wandte sich dem Jungen zu, der sich teilnahmslos im Raum umsah, gleichgültig darüber, welchen Kampf ich hier führte.
„Und dein Name ist also Paul?“
Er zuckte mit den Schultern. „Scheint so.“
„Hast du deinen Perso dabei?“
Ich sog scharf die Luft ein. Daran hatte ich nicht gedacht. Es bedurfte nur einen kurzen Griff in seine Taschen und die Karte würde alles zunichtemachen. Zumal er nur wenig interessiert daran schien meine Geschichte zu bestätigen. Aber mochte er jemanden, der ihm half, tatsächlich ins offene Messer laufen lassen?
„Nee.“
Mir wurde beinahe übel vor Erleichterung.
„Wir mussten so schnell los, dass er ihn womöglich Zuhause gelassen hat.“ Meine Worte überschlugen sich fast, einzig und allein um ihm wenig Raum zum Reden zu geben. „Es ist gerade ziemlich viel los im Café. Du kennst das ja, kaum kommt die Sonne raus, ist es rappelvoll. Ich glaube, ich habe meinen auch nicht dabei.“
Halt doch den Mund, deinen Personalausweis will doch gar niemand sehen!, dröhnte es in meinem Kopf. Ich saß als komplettes Nervenbündel in diesem engen Büro und wünschte mir, einfach nur gehen zu dürfen.
„Und er wohnt gerade bei euch?“, fragte Gregor. „Kann deine Mutter das bestätigen?“
Im nächsten Moment schon griff er ans Telefon.
„Natürlich kann sie das bestätigen“, erwiderte ich schneller als nötig. „Aber du weißt doch, wie viel sie immer zu tun hat. Sie wird sicher keine Zeit finden, abzuheben.“
Er hielt kurz inne, seine Hand lag reglos auf dem Hörer. Meine Mutter hatte durch ihre Hilfsbereitschaft und Nachsichtigkeit bei vielen ein Stein im Brett, auch bei Gregor.
Wieder schnaubte er. Den Konflikt, den er im Inneren bestritt, konnte man ihm deutlich ansehen. Dann endlich zog er die Hand zurück.
„Ich werde Lilli das nächste Mal fragen, wenn ich im Café bin“, beschloss er, wobei es in meinen Ohren wie eine Drohung klang.
„Und du“, er zeigte auf den Jungen. „Du solltest dankbar dafür sein, dass sich Melli für dich eingesetzt hat. Ich werd es nicht zur Anzeige bringen, aber ich will dich in diesem Laden nicht mehr sehen.“
Er erhob sich, stampfte auf die Tür zu und entließ uns. Der Junge ging voraus, wortlos und ohne Gregor weiter zu beachten. Doch bevor ich den Käfig verlassen konnte, hielt dieser mich sacht am Arm zurück.
„Ob Cousin oder nicht, pass bei dem auf“, raunte er. „Ich kenne Kerle von dieser Sorte. Die bringen nichts als Ärger. Und jetzt geh. Und grüß deine Mutter von mir.“
Ich nickte und lief mit der schweren Tasche bepackt dem Jungen hinterher. Der Rest meiner Anspannung fiel von mir ab, als sich die Türen hinter uns schlossen. Auf dem Parkplatz atmete ich tief die frisch gewonnene Freiheit ein, als hätte ich Stunden in diesem Büro zugebracht.
„Das ist nochmal gut gegangen“, seufzte ich.
Gekonnt kramte er eine Zigarette und ein silbernes Zippo aus der Hose.
„Wie auch immer.“
Eine Mischung aus Entrüstung und Enttäuschung machte sich in mir breit. Ich hatte mich um Kopf und Kragen geredet, um ihn vor einer Anzeige zu bewahren.
„Äh, du meinst wohl Dankeschön?“
Genüsslich blies er den Rauch aus seiner Lunge.
„Ohne meine Hilfe hättest du wirklich Probleme bekommen“, beharrte ich, aber er blies mir nur den nächsten Zug mit einem Grinsen ins Gesicht.
Das beißende Zeug setzte sich augenblicklich in meinem Hals fest. Ich hustete.
„Hab dich nich um Hilfe gebeten, Blondie“, antwortete er und ließ mich stehen.