Mein Unbehagen wuchs mit jeder Minute, in der ich an Sörens Seite die Straße herunterlief. Erst hatte ich gedacht, er hätte mir aus Freundlichkeit geholfen, aber nun, da Chris Namen gefallen war, schossen mir tausend Fragen über seine Beweggründe durch den Kopf, die allesamt von der Einen beherrscht wurden:
Was hatte Chris nur wieder angestellt?
Im besten Fall hatte er ihm oder einem seiner Freunde etwas gestohlen. Wesentlich schlimmer wäre es, wenn sie aneinandergeraten waren, was mich bei Chris Art nicht wundern würde. Müsste ich jetzt dafür büßen, weil Sören klarmachen wollte, wer hier das Sagen hatte?
Verstohlen sah ich zu ihm auf. Er machte nicht den Eindruck, als wäre er wütend. Obwohl ich mir auch nicht vorstellen konnte, wie das aussehen mochte. Er hatte nie leicht reizbar oder hitzig gewirkt, im Gegenteil. Aber was wusste ich schon, ich war ihm schließlich seit Jahren aus dem Weg gegangen. Zumal der Grund dafür nur das Gefühl in mir verstärkte, flüchten zu müssen.
Und dem wäre ich auch gefolgt, wenn mein Rucksack nicht über seiner athletischen Schulter gehangen hätte. Mir blieb keine andere Wahl, als stumm neben ihm herzulaufen und mich wie ein Schwein auf dem Weg zur Schlachtbank zu fühlen.
„Ihr beide habt hier ja einen ganz schönen Wirbel verursacht“, brach er irgendwann das Schweigen.
Ich zog den Kopf ein. Wir? Egal, was Chris getan hatte, damit hatte ich nichts zu tun. Aber konnte ich das wirklich behaupten? Bis vor kurzem war ich bei sämtlichen Schandtaten dabei gewesen.
„Manchmal ist Chris ziemlich unberechenbar“, erwiderte ich mit kratziger Stimme.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem perfekten Gesicht aus.
„Das kann man wohl laut sagen. Einfach ist der Junge ist. Da kann man sich nur wundern, warum ein Mädchen von deinem Format sich so jemanden ausgesucht hat.“
Mein Mund presste sich zu einer schmalen Linie zusammen. Das war vorbei, ein Fehler, der sich nicht wiederholen würde.
„Versteh mich nicht falsch“, entgegnete Sören bei Anblick meiner finsteren Miene. „Christian ist ein korrekter Kerl. Er weiß, was er will. Und was noch wichtiger ist: Er weiß, was andere wollen.“
Ein korrekter Kerl? Sprachen wir hier noch über denselben oder hatte er schlicht keine Ahnung, was Chris so alles trieb? Und was meinte er damit, er würde wissen, was andere wollen?
„Ich denke, die Leute tun ihm unrecht, ihn mit seinem Vater zu vergleichen“, fuhr er fort. „Aber das haben sie hier immer gerne gemacht: Von den Kindern dasselbe erwarten wie von deren Eltern.“
Damit lag er nicht verkehrt. Lange genug hatten alle von mir erwartet, wie meine Mutter zu sein. Und nachdem sie bemerkten, dass die Wahrheit anderes aussah – dass ich Umgang mit dem vorlauten Sohn eines Alkoholikers hatte - waren sie schockiert gewesen.
Wir bogen auf den schmalen Weg meiner Straße ein und Sören erwiderte den Gruß eines Nachbarn. Zu sagen, dass seine Familie von jedermann geschätzt wurde, wäre untertrieben. Durch den Reiterhof hatten sie den Tourismus nach Wittelshain gebracht, der zwar saisonabhängig und mäßig war, aber neben ihrer eigenen Kasse auch denen Geld zuspielte, die Ferienunterkünfte und Wanderungen anboten. Mein Vater hatte immer gesagt, dass nach Schließung der Fabrik die Diedsens dafür gesorgt hätten, dass Wittelshain nicht vollkommen vor die Hunde ging. Dabei spielten ihre guten Kontakte zum Gemeinderat sicher keine unerhebliche Rolle. Alles in allem also eine Familie, der es weder an Beziehungen noch an Vermögen mangelte. Umso unwahrscheinlicher war es, dass der Sohn von ihnen einen Kleinkriminellen kannte.
„Da wären wir“, sagte Sören, als er vor meinem Haus zum Stehen kam.
Zögerlich nahm ich die Schultasche entgegen, die er mir hinhielt, und bemerkte, dass ich bis auf den einen Satz nichts zur Unterhaltung beigetragen hatte. Ich sollte irgendetwas sagen, mich wenigstens fürs Nachhausebringen bedanken, aber mein Hals schnürte sich wieder augenblicklich zu. Das Unbehagen, dass die Aneinanderreihung sinnvoller Worte verhinderte, schien man mir deutlich anzusehen, denn mit einem etwas schuldbewussten Lächeln trat er einen Schritt zurück.
„Dann richte Christian einen schönen Gruß aus“, verabschiedete er sich. „Er soll sich mal bei mir melden.“
Ich nickte eifrig, ohne mir im Klaren darüber zu sein, was ich da eigentlich versprach. Aber um von ihm wegzukommen, bevor die eine Sache zur Sprache kam, hätte ich womöglich zu allem Ja gesagt. Zittrig fummelte ich den Schlüssel ins Schloss, während er sich zum Gehen aufmachte. Seine Schritte entfernten sich, und fast hatte ich es durch die aufspringende Tür geschafft, da hörte ich, wie das Knirschen unter seinen Schuhen abrupt verstummte.
„Ach, und Melissa?“
Ich erstarrte im Rahmen. Meine Finger krallten sich in den harten Knauf, als könnte der Druck darauf die nächsten Worte verhindern.
„Ich hatte damals keine Gelegenheit dir das zu sagen, aber... Das mit deinem Vater tut mir leid.“