Der schlaksige Junge schien etwas älter als ich zu sein, aber an meiner Schule hatte ich ihn bisher nicht gesehen. Neuigkeiten verbreiteten sich dort ebenso schnell wie auf dem Wochenmarkt, besonders wenn es darum ging, über einen Fremden zu tratschen. Vielleicht aber war er auch nur bei Verwandten in der Gegend zu Besuch. Verwandte, die sich wohl wenig um seinen Aufzug scherten. Mit abgewetzter Cargohose und dem Shirt irgendeiner Band, dass eine Nonne mit emporgestreckten Mittelfinger über den Worten Fuck it zeigte, lief er gelangweilt das Obstregal ab. Er war einer jener Jungen, bei denen man das Verlangen die Straßenseite zu wechseln nicht unterdrücken konnte. Jener, die man im Auge behalten musste.
Vor den Trauben machte er halt. Sein Blick wanderte kurz von rechts nach links, als wollte er sich versichern nicht beobachtet zu werden. Das ich hinter den Tomatenrispen stand, bemerkte er nicht, denn seelenruhig pickte er sich einige Trauben ab und schob sie sich in den Mund. Ein Kribbeln durchfuhr mich. Ich konnte weder wegsehen noch etwas sagen als die Nächsten in seine Hand wanderten. In der Annahme alleine zu sein, lehnte er sich gegen einen Aufsteller, der für regionale Landwirtschaft warb, und ließ seine Beute geschickt durch die Finger gleiten, ohne eine dabei zu verlieren. Es erinnerte mich an die Zauberer aus dem Fernsehen, die ihre Karten kunstfertig drehten und wendeten, bevor diese auf magische Weise verschwanden. Doch anders als bei ihnen endete sein Fingerspiel nicht mit einer Karte im Ärmel, sondern mit einem gekonnten Wurf in die Luft. Die Traube flog, die Schwerkraft kam, und schon landete sie in seinem Mund. In diesem Moment, in dem ich wie hypnotisiert jeder Bewegung folgte, entdeckten mich seine dunklen Augen.
Mein Körper versteifte.
Weiße Zähne blitzten hinter einem selbstsicheren Grinsen und er nickte mir zu, wie man es bei einem Bekannten tut. Hektisch griff ich nach den Tomaten. Wieso schlug mein Herz so schnell? Schließlich hatte ich ihn beim Diebstahl erwischt, nicht umgekehrt. Ich krallte die Hände in den Plastikbügel des Korbs und flüchtete in den nächsten Gang. Sein siegessicheres Gesicht verfolgte mich bis zum hinteren Teil des Ladens. Sollte ich jemandem Bescheid geben? Mandy, die immerzu mit dunklen Augenringen an der Kasse saß? Oder besser Rita, die mit ihrem breiten Kreuz mehrere Paletten gleichzeitig stemmen und nicht einen pampigen Kommentar der Kunden unkommentiert lassen konnte?
In größter Eile packte ich die noch fehlenden Mehlbeutel ein. Es waren nur ein paar Trauben gewesen. Kein Grund eine Szene zu machen. Es wurden schon weitaus teurere Waren aus Schraders gestohlen. Allen voran Tabakschachteln und Parfümflaschen, meist von Jugendlichen und auch nur um sich zu beweisen, nicht weil man es nötig hatte. Um das zu unterbinden, hatte man Gregor eingestellt, von dem man sich erzählte, er sei Rausschmeißer eines namhaften Clubs in Berlin gewesen, ehe er den Falschen vermöbelte und sich absetzen musste. Nun sollte er Ladendiebe in Schach halten, doch da der Großteil des Dorfs anständige Leute waren, trug er häufig nur die Einkäufe älterer Kunden zu dessen Autos und entsorgte den Parkplatzmüll. Ihn wegen ein paar gestohlener Trauben zu nerven, schien mir übertrieben.
Mit meinem übervollen Korb bog ich gerade in Richtung Kasse ab, als er plötzlich wieder auftauchte. Er stand einige Meter vor mir an einem Eckregal, das verschiedenste Elektroware anbot. Die Frischeabteilung hatte anscheinend seinen Reiz verloren, dachte ich spöttisch und stellte mir vor, was er von dort noch entwendet haben mochte. Abschätzend drehte er eine Batteriepackung in den Händen hin und her, ehe sie in der Seitentasche seiner Cargo verschwand. Dieses Mal hatte er keine Notiz von mir genommen, denn ohne sich umzusehen ging er auf die Kassen zu. Wieder überkam mich eine unerklärliche Aufregung und ich versuchte mir zu versichern, dass er die zweifelsfrei bezahlen würde. Allein sein entspannter Gang, der beinahe einem Schlendern gleichkam, sprach gegen einen Diebstahl. Auch sein Kopf zuckte nicht von einer Richtung in die andere, aus Angst, jemand könnte ihn auffliegen lassen. Da waren die Leute, die ich bisher beim Klauen beobachtet hatte, deutlich nervöser gewesen. Schon der unsichere Ausdruck und die zappelnden Beine verrieten mir alles. Aber beim Traubendieb deutete nichts darauf hin, dass er etwas illegales getan hatte. Oder noch vorhatte.
Mit großem Abstand folgte ich ihm. Ich wollte unbedingt mit ansehen, wie das Ganze ausging. Rita und Mandy waren wie so oft im Gespräch vertieft. Um diese Tageszeit gab es keine andere Beschäftigung für sie. Ihre Köpfe hoben sich beinahe synchron, als der Fremde an den Kassenbereich kam. Mein Herz hämmerte. Rita musterte ihn von oben bis unten mit abschätziger Miene. Sein Look ließ sie ganz offenkundig nichts Gutes ahnen, denn nicht nur ihr Gesicht verhärtete sich, auch ihr Körper richtete sich auf, als bereitete er sich auf Ärger vor. Mein kompletter Brustkorb schien jetzt zu vibrieren. Ich wartete angespannt darauf, dass er in seine Tasche griff. Er lächelte Rita an. Der Puls schlug mir laut in den Ohren, ich hörte kaum mehr die Ladenmusik im Hintergrund. Dann passierte er die Kasse.
Unmerklich hielt ich den Atem an. Rita sah ihm mit zusammengekniffenen Augen hinterher. Sie ahnt es!, schrie mein Kopf, während der Mund wie zugeschweißt blieb. Aber im nächsten Moment nahm sie kopfschüttelnd das Gespräch mit Mandy wieder auf.
Ich atmete schwer aus. Er war davon gekommen. Niemand hatte etwas bemerkt.
Merkwürdig erleichtert legte ich meine Einkäufe auf das Band.
„Haste den jesehn?“, raunte Rita und ihr Kinn zuckte in Richtung des Jungen, der im Begriff war, aus Schraders zu verschwinden.
„Ich sach es dir, von so nem musste dich fernhalten.“
„Stimmt wohl“, pflichtete ich ihr bei, meine Augen aber blieben an ihm haften, bis die Automatiktüren auseinander schwangen.
Ich kramte gerade nach meinem Geldbeutel, als Gregor laut fluchend an uns vorbei stürzte.
„Was hat den denn gestochen?“, hörte ich Mandy fragen, meine ganze Aufmerksamkeit aber lag auf dem Bullen, der bereits den Eingang erreicht hatte und dessen kräftige Hände den Jungen wieder in den Laden zogen.