Ich zog meine Hand aus Chris Griff und taumelte zurück, gefährlich nahe der Treppenkante. Er wollte nicht in einen Laden, wollte keine Kleinigkeiten abgreifen, um danach wie gewohnt in der Fabrik bei einem Bier Techo zu hören. Das hier würde etwas völlig anderes werden, das war sofort klar, als er aus seinem Hoodie zwei spitzzulaufende Metallstäbe mit Griff hervorholte. Er murmelte etwas davon, ich solle darauf achten, dass niemand kommt. Aber ich war vollkommen versteinert, während ich beobachtete, wie er in die Hocke ging, um die Werkzeuge ins Türschloss zu schieben. Auf der anderen Seite des hohen Zauns ertönte eine Frauenstimme, nur wenige Meter hinter uns. Ich machte einen Satz zur Tür und drückte mich neben Chris gegen das Holz.
„Da ist jemand“, flüsterte ich hektisch und zerrte meine Kapuze tiefer ins Gesicht.
Er warf kurz den Kopf zurück.
„Bullshit“, raunte er. „Die sieht uns doch gar nich.“
Das reichte keinesfalls aus, um die aufsteigende Panik in mir zu drosseln. Was, wenn einer der Nachbarn den Weg entlangschlenderte oder seine Wohnung verließ? Vielleicht sogar jemand aus diesem Haus, an dessen Türschloss sich Chris konzentriert zu schaffen machte? Was sollte ich dann tun?
„Woher willst du wissen, dass sie nicht Zuhause ist?“, wisperte ich, obwohl mir klar war, dass Frau Weigart um diese Zeit mit Molli auf Einkaufstour wäre.
Ein amüsiertes Schnaufen kam aus seiner Kapuze.
„Hälst mich für so blöd? Und jetzt guck, dass niemand kommt!“
Mit eingezogenen Kopf trat ich wieder an die Kante und spähte wie ein aufgescheuchtes Tier nach rechts und links. Meine Hände schienen unterdessen ein Eigenleben entwickelt zu haben, verkrampften sich zu Fäusten und öffneten sich abwechselnd, wobei sich die Innenflächen mit klebrigem Schweiß füllten. Ich sah über die Schulter zu Chris, der die Werkzeuge im Schloss hin und herdrehte und daran ruckelte. Er fluchte leise. Das dauerte zu lange. Wir mussten hier weg, raus aus der Schussbahn, in der uns jeden Moment einen Kugel in Form eines aufmerksamen Bewohners treffen könnte. Angespannt wippten meine Füße auf und ab. Das Knirschen der kleinen Steinchen unter den Sohlen kam mir so laut vor wie eine Baustellenaufschüttung. Auch Chris Flüche, die er der Tür zuraunte, schienen durch die komplette Passage zu dröhnen. Konnte er nicht leiser sein? Im Augenwinkel drängten sich mir die anklagenden Gesichter der Tonzwerge auf. Besonders der mit der blauen Zipfelmütze schien mich mit seinem starren Blick durchbohren zu wollen. Vor etlichen Jahren, als Frau Weigart wegen einer Hüft-OP im Krankenhaus lag und ich mich dazu bereiterklärt hatte, ihre Pflanzen zu gießen, hatte ich diesem scheußlichen Ding alle paar Tage ins unförmige Gesicht schauen müssen. Bei der Erinnerung daran riss ich die Augen auf.
„So'ne abgefuckte Scheiße“, murrte Chris, ließ das Werkzeug verschwinden und erhob sich, um mit genervtem Ausdruck die Hauswand und deren Fenster nach einer Schwachstelle abzusuchen.
Dann wanderten seine Augen zu mir. Ich, die krampfhaft versuchte, nicht zum Tonzwerg zu sehen, und deren Hände noch immer imaginäre Stressbälle quetschten. Er neigte den Kopf und musterte mich nachdenklich. Ich schluckte schwer, hoffte, er würde meine steife Haltung der Nervosität zuschreiben und es gut sein lassen. Einen Moment lang starrten wir uns nur an. Dann trat er nah an mich heran.
„Die Alte hat 'n Schlüssel hier draußen.“
Ich presste die Lippen aufeinander und wich seinem Blick aus. Sein Gesicht war nur noch Zentimeter von meinem entfernt, löste den Drang in mir aus, einen Schritt zurückzumachen, dem ich jedoch widerstehen musste, um nicht Rücklinks aus unserem Versteck zu stolpern.
„Du weißt es. Sags mir, Lizzy.“
Trotzig schüttelte ich den Kopf.
„Ich muss sonst 'n Fenster einschlagen, Lis“, sagte er mit einem gefährlichen Unterton in der Stimme. „Was meinste, wie viel Aufsehen das weckt...“
Meine Augen huschten umher, suchten einen Punkt, den sie fixieren konnten, um nicht einzuknicken, und blieben letztlich am Zwerg hängen. Chris drehte den Kopf in seine Richtung und stieß ein leises Pfeifen aus.
„Da also“, murmelte er, ließ mich stehen und flitzte mit großen Schritten aus dem Vordach in die Beete.
Bitte lass ihn nicht dort sein, bitte lass sie ihn woanders versteckt haben. Er hob die Figur bei der Mütze an, ich konnte sein triumphales Grinsen hinter der Kapuze aufblitzen sehen, bevor er mit wenigen Sprüngen zurückkam, den Schlüssel im Schloss drehte und mich an der Jacke mit in den Gang zog.