Wir waren ganz aufgekratzt, als wir uns wieder ins Treiben stürzten, machten uns über Gregors Blamage lustig und alberten herum. Solange bis das große Zelt das Ende der Feststraße signalisierte.
Ich warf Chris einen verschwörerischen Blick zu.
„In meiner Tasche ist noch Platz.“
Er grinste breit und sah sich um. Es war noch einiges los, auch wenn die Wolkendecke über uns immer dichter wurde und die Ersten bereits nach Hause trieb.
„Jopp, hier funken uns die Andren auch nich dazwischen.“
„Die Anderen?“
Sein amüsiertes Lächeln ließ mich wissen, dass ich zum zweiten Mal etwas dummes von mir gegeben hatte.
„Haste das nich gecheckt? Drei am Karussell, die ziehen ein Gruppending durch, und Einer beim Süßkram.“
Ich drückte meine Tasche enger an mich. Im Eifer des Gefechts hatte ich mir nicht einmal die Frage gestellt, ob auch andere auf Streifzug waren. Warum auch, schließlich war mir früher nie etwas aufgefallen und deshalb hatte ich geglaubt, diese Gegend wäre sicher vor Dieben. Aber wenn man genauer darüber nachdachte, dann wies allein die Anwesenheit des Zivilpolizisten darauf hin, dass hier geklaut wurde. Wie naiv es doch war, gedacht zu haben, Chris und ich wären die Einzigen. Die Selbstsicherheit, die mir eben noch aus allen Poren drang, verebbte mit einen Schlag.
„Der Typ beim Süßkram wird’s nich packen“, erklärte Chris ohne Mitleid in der Stimme. „Is 'n blutiger Anfänger. Würd mich nich wundern, wenn der Zivi ihn schon erwischt hat. Allein is halt echt Scheiße.“
Da konnte ich ihm nur Recht geben. Auch ich war heilfroh, dass ich jemanden dabei hatte, der dafür sorgte, dass mich mein Übermut nicht geradewegs in die Arme eines Polizisten trieb. Und Chris kannte sich gut aus, wusste, wie man es am geschicktesten machte. An einen Besseren hätte ich nicht geraten können. Sofort berichtigte mein Kopf mich. Ich war nicht zu ihm gekommen, sondern er hatte sich für mich entschieden. Womöglich hatte er bereits bei Schraders den Teil von Lis in mir erkannt, lange bevor ich selbst etwas von ihrer Existenz wusste. Mein Stolz kehrte zurück. Ich war Lis, süß und scharf wie Kirschbonbons.
„Ich gehe vor“, sagte ich kühn und tänzelte auf eine kleine Gruppe zu.
Die Gedanken an Polizisten, Mama und Gregor verloren sich in den hintersten Teil meines Verstands, während ich von Neuem im Element der Ablenkung aufging. Wie Chris es gesagt hatte, wollte ich ganz in der Gegenwart leben, mir keine Sorgen über die Zukunft oder die Vergangenheit machen, mich vollständig dem aufregenden Spiel hingeben und gewinnen.
Nachdem wir die ersten Drei erfolgreich abgezogen hatten, stand ich bei einer älteren Dame, die sich die Brille aufsetzte, um den Flyer lesen zu können. Bei ihr musste ich kaum im Redefluss bleiben, die Alte freute sich derart über eine nette Unterhaltung, dass sie gar nicht mehr den Mund zubekam. Die hätte man bestimmt auch ohne Flyer beklauen können, dachte ich und hielt im Augenwinkel Ausschau nach Chris. Dieses Mal ließ er sich Zeit. Nach einigen „Wie schön“ und „herzallerliebst“ merkte ich, dass er nicht kommen würde. Ich verabschiedete mich von der Alten und zwängte mich auf Suche nach ihm durch mehrere Gruppen. Es schienen allesamt Leute aus dem Zelt zu sein, die schon einen deutlichen Schwips weghatten. Die musste man nicht einmal groß Ablenken, der Alkohol erledigte das. Sicher hatte Chris eine günstigere Gelegenheit ausgemacht.
Vor dem Zelteingang dann erkannte ich ihn auch. Er klopfte einem Kerl um die Dreißig auf den Rücken, während der sich zwischen Mülleimer und Zeltplane übergab. Ein leichtes Opfer. Nach einem kurzen Griff in die Jackentasche ließ er den Betrunkenen zurück und schlenderte mit einem triumphalen Grinsen in meine Richtung.
„Christian!“
Der Ruf schallte wie eine Drohung über den Platz. Chris erstarrte. Ein großer Mann kam aus dem Zelt getorkelt. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, musste alle paar Meter sein Gleichgewicht wiederfinden, damit er nicht zu Boden stürzte. Sein graues Haar klebte ihm strähnig im aufgedunsenen Gesicht, die dunklen Augen lagen hinter geschwollenen Tränensäcken, das abgenutzte Hemd war von Flecken übersät. Ich hatte Hauke Martens seit Jahren nicht gesehen, aber er sah noch schäbiger aus als in meiner Erinnerung. Glücklicherweise stand ich einige Meter entfernt von Chris, auf den er zukam, sonst hätte mir seine Alkoholfahne sicher den Magen umgedreht.
„Junge“, lallte er und stützte sich mit einer Hand auf Chris Schulter. „Gib deinem alten Vater mal einen Fuffi.“
Sofort schüttelte Chris ihn ab.
„Seh ich aus wie's Arbeitsamt?!“, murrte er und wollte sich davon machen.
Dann aber schnellte Haukes Hand vor, in einer Geschwindigkeit, die ich ihm in seinem Zustand nicht zugetraut hätte. Ohne Schwierigkeiten zog sie Chris zurück. Ich war drauf und dran vorzupreschen, zwang mich aber zum Stehenbleiben. Es würde alles schlimmer machen, wenn ich mich einmischte, abgesehen davon wusste jeder, dass man bei ihm besser auf Abstand blieb. Chris würde schon eine Möglichkeit finden, sich zu verdrücken. Wie falsch ich damit lag, wurde klar, als Hauke sich bedrohlich vor ihm aufbaute. Sein schwammiges Gesicht verzog sich im Ärger, während er auf ihn herabblickte.
„Wie war das?!“
Unnachgiebig hielt Chris seinem Blick stand. Er war ein Stück kleiner als sein Vater und im Vergleich zu dessen aufgeschwemmten Körper wirkte er wie ein Streichholz. Dennoch wechselte seine sonst so gelassene Haltung in eine unnachgiebig Harte, wie ein gespannter Bogen, der nur darauf wartete, abgeschossen zu werden.
„Ich hab nix, Alter“, erwiderte er zähneknirschend.
Haukes Augen wurden schmal. Plötzlich packte er Chris am Shirtkragen, zog ihn nah an sich heran. Meine Atmung setzte aus. Ich musste etwas unternehmen, dazwischengehen, aber die Füße blieben wie angehaftet auf dem Asphalt. Was hätte ich mit meiner kleinen Statur auch gegen einen betrunkenen Mann ausrichten können?
„Erzähl mir keinen Scheiß, Bürschchen! Du bist doch nur hier, um die Leute abzuziehen. Ein Anruf beim Jugendamt und die verfrachten deinen Arsch ruckzuck ins Heim. Und weißt du, was die Kerle da mit dir machen?“
Hasserfüllt starrte Chris ihn an. Die Fäuste ballen sich neben seiner Hüfte. Tu es nicht, fehlte ich innerlich. Ich war mir sicher, dass Hauke ihn vor allen Leuten windelweich prügeln würde, wenn er es nur ein wenig provozierte. Schließlich griff er in seine Hosentasche und Martens riss ihm die Scheine aus der Hand.
„Lass gut sein, Hauke“, sagte jemand in wohlwollenden Ton, und schon schob sich Jansen an mir vorbei.
Hauke stieß Chris grob weg und hob warnend den Finger. Dabei wankte er ziemlich, was seine Bedrohlichkeit aber nicht minderte.
„Sag du mir nicht, wie ich mit meinen Jungen umzugehen hab!“
Beschwichtigend hob Jansen die Hände, um die Situation zu entschärfen. Für einen kurzen Moment dachte ich, Hauke würde auf ihn losgehen. Aber dann trafen sich unsere Blicke und er kniff die Augen zusammen, als könne er nicht glauben, wer da neben Jansen stand. Sein Gesicht wurde bleich und er machte auf dem Absatz kehrt, um wieder im Zelt zu verschwinden.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jansen an Chris gewandt, der wie ich nicht recht zu begreifen schien, was eben passiert war.
Sein Zorn allerdings kehrte schnell zurück und er spuckte Jansen vor die Füße.
„Kümmer dich um deinen eignen Scheiß!“, fauchte er und verschwand in der Menge.
Ich stand derweil noch immer starr da, wusste nicht, ob ich Chris folgen oder wieder zu meiner Mutter gehen sollte. Bis ich einsah, dass Ersteres keine gute Idee wäre. In seiner Wut wollte er bestimmt niemanden bei sich haben. Und mich zu meiner Mutter gesellen, die womöglich noch mit Gregor turtelte, kam ebenfalls nicht in Frage. Damit war der Abend endgültig gelaufen.
Jansen wandte sich kopfschüttelnd ab, und erst jetzt erkannte er mich.
„Melissa“, sagte er überrascht. „Was machst du denn hier?“
Bevor ich antworten konnte, kam er von selbst darauf.
„Deine Mutter hat wohl Hilfe beim Stand gebraucht.“ Dann sah er nachdenklich in die Richtung, in der Chris verschwunden war. „Das war recht unschön, nicht wahr? Vielleicht sollte jemand die Behörden einschalten...“
Ich blickte in fassungslos an. Wenn er das tat, würden die nicht zögern Chris mitzunehmen. Denn obwohl Haukes Drohung absolut scheußlich gewesen war, sie war nicht haltlos. Schließlich trieb sich Chris nur herum, ging nicht zur Schule und bemühte sich auch sonst nicht um ein anständiges Leben. Ich würde ihn nie wieder sehen.
„Dann hätte der arme Junge zumindest eine Chance auf eine Zukunftsperspektive.“
Purer Hass stieg in mir hoch. In diesem Moment hasste ich Jansen so sehr, wie ich eben noch Hauke gehasst hatte.