Für andere war ich Melli, verantwortungsvoll, nett und zuverlässig. Für ihn war ich Lis, die Spontane, die Risikobereite. Er musste mir nur eine Nachricht mit einem Ausrufezeichen senden und ich wusste, dass es losging. Dann ließ ich die Haus- und Schularbeiten liegen, schickte ein Fragezeichen zurück und zog die Tür hinter Melli zu.
Dass wir uns an verschiedenen Orten trafen, hielt neugierige Leute davon ab, uns in Verbindung zu bringen. Es war nicht allein für den Abgriff von Vorteil, sondern garantierte mir auch eine sichere Rückkehr in meinen Alltag, den ich neuerdings deutlich besser ertrug. Schuld war das aufgeregte Prickeln, das mich packte, wenn ich jemanden ablenkte, während Chris die Sachen einsteckte. Die Nummer in der Tankstelle hatten wir noch einmal beim Elektromarkt und zweimal im Kiosk durchgezogen. Und allesamt hatten sie bereitwillig mitgespielt, ohne zu ahnen, dass sie um mehrere Dinge erleichtert wurden. Sollten sie es irgendwann bemerken - spätestens bei der nächsten Inventur – hätten wir das Diebesgut längst in die alte Fabrik bugsiert und die Versicherung würde dafür aufkommen. Alles kein Problem.
Auch meine Nervosität hatte sich beim zweiten Mal soweit gelegt, dass ich die Aufregung in vollen Zügen genießen konnte. Wie ein Stromschlag zuckte sie durch den Körper, ließ meinen Verstand vibrieren und entlud sich unter Chris stürmischen Küssen.
Es war so einfach mit ihm. Er stellte keine Fragen über meine Familie, keine über meine Freunde oder meine Interessen. Ihm musste ich nicht beweisen, dass ich ein kleines, glückliches Leben führte, bei ihm konnte ich eine andere als Melli sein. Der Preis dafür bestand lediglich aus der Befolgung seiner Regeln, von denen er bestimmte aussprach, manche nicht. Wichtige waren zum Beispiel die Grundsätze für den Abgriff, wie er es nannte: Das Sicherheitskonzept sowie der Publikumsverkehr eines Ladens musste überprüft werden, die Fluchtmöglichkeiten sollte man immer im Auge behalten und den Wert der Ware gegenüber dem Risiko erwischt zu werden abwägen.
Dann gab es noch die Unausgesprochenen: Chris hatte das Sagen. Ein Reinreden führte nur dazu, dass er genervt war, was den Bruch der nächsten Regel bewirkte. Man durfte ihm nicht auf den Keks gehen. Außer man wollte provozieren, dass er einen stehen ließ oder solange ignorierte, bis sein Interesse wieder geweckt wurde. Alles in allem leicht zu begreifende Richtlinien, die sicherstellen, dass wir beide unseren Spaß hatten.
Lena-Marie quiekte in das Sofakissen, als sich Hilary Swank und Gerard Butler eng umschlungen tief in die Augen sahen. Gleich würde die Kussszene kommen, auf die sie seit über einer Stunde sehnlichst wartete. Ich stöhnte innerlich auf, schnappte mir den Rest der viel zu süßen Schokoladentorte und hoffte, dass sie es bald hinter sich brachten. Nach weiterem Liebesgesäusel legten sie endlich die Lippen aufeinander, so leicht und zärtlich, dass mir die Romantik zusammen mit dem Torteguss hartnäckig an den Zähnen kleben blieb. Lena-Marie fiepste auf, packte das zerknautschte Kissen weg und sank zufrieden zurück.
„Mein Gott, war das nicht das Schönste, dass du jemals gesehen hast?“, fragte sie mit einem Ausdruck, der sich zwischen Weinen und purer Glückseligkeit nicht entscheiden konnte.
Was ein Schwachsinn. Ein Kuss war nur das Größte, wenn man ihn hinter einer Tankstellenecke mit einem scharfen Bonbon im Mund bekam. Oder in einer halb zerfallenen Fabrikhalle zwischen Scherben und geklauten Getränkedosen.
„Mmh“, gab ich daher unbeeindruckt zurück.
„Hat dich schon mal einer so geküsst?“ Sie war noch immer hin und weg, ihre Augenlider flatterten schwärmerisch.
Tatsächlich hatte mich Dennis Scheferling vor einem Jahr auf diese Weise geküsst. Er war in einer Klassenstufe über mir gewesen und hatte mich irgendwann auf dem Nachhauseweg schüchtern gefragt, ob ich Lust hätte, mich mit ihm zu Treffen. Ich erinnerte mich daran, wie wir zum Flakensee gefahren waren und auf einer Stoffdecke über seinen Fußballverein geredet hatten. Dabei war er immer näher an mich herangerückt, in der Hoffnung, ich würde seine Unsicherheit nicht bemerken. In einem Moment unangenehmen Schweigens dann hatte er sich vorgebeugt, die Hand sanft an meine Wange gelegt und mich geküsst. Er war nett gewesen, hatte sich um den perfekten Ort gekümmert, mir mit rotem Gesicht gebeichtet, wie hübsch er mich fand. Dehalb dachte ich, es wäre richtig, diesen unschuldigen Kuss, bei dem sich unsere Lippen kaum berührten, zu erwidern. Aber es hatte sich rein gar nichts in mir geregt, auch nicht als wir danach händchenhaltend durch den Sonnenschein spazierten. Einige Wochen darauf zogen die Scheferlings fort und ich war erleichtert, seine Zärtlichkeiten und die Fußballmonologe auf diese unkomplizierte Art losgeworden zu sein.
„Am Ende ist es nie so, wie man es im Film sieht“, antwortete ich schließlich.
Sie sah mich bestürzt an.
„Aber sicher fühlt es sich genauso an“, sagte sie voller Überzeugung. „Wenn dieser jemand etwas ganz besonders ist und schon, bevor man sich richtig kennenlernt, eine Verbindung besteht. Das spürt man dann einfach.“
Was ein verklärter Blick auf das Leben. Sie tat mir etwas leid, denn ich wusste, dass sie früher oder später von einem Jungen herb enttäuscht werden würde.
„Und dieser jemand hat dann auf dich gewartet, so wie du auf ihn.“ Sie sah verträumt in die Leere, während sie sich ihre eigene Romanze vorstellte.
Ich spähte auf mein Handy, in Erwartung, ein Ausrufezeichen erhalten zu haben. Keine Nachricht.
Ob ich auf Chris gewartet hatte, so wie ich es jetzt tat? Oder nur auf irgendwen, der mich aus dem Alltag riss? Und warum hatte er gerade mich vor zwei Wochen ausgesucht, um in die Fabrik einzubrechen? Weil ich ihn beim Supermarkt vor schlimmerem bewahrte? Er sagte, ich sei wie diese Bonbons, die sich zunächst süßlich leicht anfühlten bis sie einem die Zunge verbrannten. Aber was bedeutete das schon?
Verärgert steckte ich das Handy wieder ein. Lena-Marie hatte mir mit ihrem Gefasel gehörig die Stimmung vermiest.