Wie eine Wildgewordene suchte ich den Boden nach Mariells Schultasche ab. Der mit Strass verzierte pinke Eastpak hing über der Stuhllehne, als wäre er der Bestandteil eines Throns, dessen Königin sich alles erlauben durfte. Aber nicht mit mir! Ich riss diese Ausgeburt an Geschmacklosigkeit von der Lehne und warf ihn unsanft auf das Pult, bereit, Unmögliches damit anzustellen. Meine Hand griff zielgerichtet nach dem Reißverschluss... Und hielt inne.
Das war Lis, die das wollte, nicht Melli. Erschrocken wich ich zurück. Mein Kopf schnellte zu Annas Tisch, auf dem die Tropfen wie ein Mahnmal glänzten. Ich biss die Zähne zusammen, so fest, dass mein Unterkiefer schmerzte. Die Wut auf Mariell hatte mich kurz vergessen lassen, weshalb ich eigentlich in der Schule war. Ich hatte wieder Melli werden wollen, das nette, verantwortungsvolle Mädchen, dass weder stahl und zerstörte.
Aber war das wirklich so erstrebenswert? Sonst schien sich auch kein Wittelshainer an die Regeln zu halten. Ständig tyrannisierten, verurteilten und beleidigten sie andere oder ruinierten ihren Ruf. Und trotzdem spazierten sie durchs Leben, als wären sie anständige Leute. Menschen wie Anna und ich hatten das lange genug ertragen müssen. Es war an der Zeit zurückzuschlagen. Dabei müsste ich mich gar nicht zwischen Melli und Lis entscheiden, nur was richtig und was falsch war.
Bei Frau Weigart einzubrechen war definitiv falsch gewesen, auch wenn mich ihre Plauderei in eine missliche Lage gebracht hatte. Aber bei Mariell sah das anders aus. Sie hätte es wegen ihrer gezielten Angriffe auf Anna verdient.
Mit neuer Entschlossenheit griff ich nach dem Eastpak, öffnete die Fächer und durchwühlte ihn. Irgendetwas musste es dort doch geben, dass ihr viel bedeutete, etwas, das ich ihr für ihre Gemeinheiten nehmen konnte. Doch zwischen Büchern mit Eselsohren und ausgefransten Heften fand sich nichts außer einer Packung Kaugummi und unzählige Haarklammern. Vielleicht sollte ich das komplette Ding einfach aus dem Fenster kippen. Eine Sache wäre sicher dabei, die sie vermissen würde.
Sei nicht dumm, du bist die Einzige in dem Zimmer.
Enttäuscht ließ ich den Rucksack sinken. Selbst wenn ich etwas entdecken würde, würde der Verdacht schnell auf mich fallen. Genervt verschränkte ich die Arme über den Kopf und sah mich um. Die Schultaschen der anderen lehnten wie eingefallene Säcke gegen die unzähligen Tischbeine. In jedem von ihnen wäre sicher genug Platz, um etwas verschwinden zu lassen. Jetzt schossen meine Arme zusammen mit einer neuen Idee triumphal in die Höhe.
Ich wandte mich erneut dem Eastpak zu, betastete die Seitenfächer, in der Hoffnung, dass sie das Ding nicht mit in die Pause genommen hatte. Im rechten Fach dann fand ich es. Die Handyhülle hatte eine ebenso scheußliche Farbe wie der Rucksack und war mit goldenen Tupfern versehen. Ich verdrehte die Augen bei dem Barbie-Anblick, ermahnte mich aber, nicht zu trödeln, denn die Klingel würde die Schülerschar in wenigen Minuten wieder zurück ins Gebäude treiben. Eilig hüpfte ich zur Tasche, die nur ein bis zwei Meter entfernt an Steffis Stuhl lehnte. Schlimmer noch als der Diebstahl eines Handys wäre die Erkenntnis, von der besten Freundin beklaut worden zu sein.
Ich zog den Reißverschluss auf und wollte die Beute gerade hineinstopfen, als mein Plan mit einem Mal zerschlagen wurde. Ein zweites Handy zeigte sich, eingekleidet in einer rosa Hülle mit goldenen Tupfern. Verwirrt hielt ich die identischen Dinger in den Händen.
Warum zum Teufel mussten sie mit gleichen Smartphones herumlaufen?! Das machte alles kaputt. Wenn es auffiel, wäre es weniger ein hinterhältiger Diebstahl als eine dumme Verwechslung, die keiner dem anderen krummnehmen konnte. Und nun?
In Überlegung, was mir jetzt noch übrig blieb, fuhr mein Daumen über das rechte Display, unabsichtlich, aber für den empfindlichen Touchscreen Aufforderung genug, sich einzuschalten. Sofort ploppten mehrere Chats auf. Nicht mal ihr Handy sperren kann sie, dachte ich naserümpfend und erblickte die letzte Nachricht von Michael: „Freu mich auf dich, Babe.“
Angewidert verzog ich das Gesicht. Es war kein Geheimnis, dass Mariell und Michael seit Wochen etwas am Laufen hatten, oft genug hatten sie es mit ihrer Knutscherei auf dem Schulhof zur Schau gestellt. Und es wunderte mich kein bisschen, dass sich dieser hohle Sportheini in eine überschminkte Mega-Tussi verguckt hatte. Blöd und blöd gesellt sich nun mal gern.
Wie automatisch wanderte mein Blick zu den unteren Chats. Ich fragte mich, ob dort auch etwas über mich stand, dabei fiel mir eine Nachricht besonders ins Auge: „Du musst unbedingt mit. Wird voll cool. Meine Schwester kann das klarmachen.“
Steffi hatte keine Schwester, und als ich den Versender der Mitteilung sah, fiel ich aus allen Wolken. Mariell hatte das geschrieben. Das war Steffis Handy! Ich öffnete den Verlauf mit Michael, um den furchtbaren Vertrauensbruch mit eigenen Augen zu lesen. Da stand es schwarz auf weiß, in jeder Zeile. Dieser Weiberheld hatte doch tatsächlich mit beiden etwas am Laufen.
Die Schulglocke läutete. Hektisch tauschte ich die Plätze der Smartphones, bevor ich mich auf meinen Stuhl schmiss und den Blick ans Fensterglas heftete, damit keiner misstrauisch wurde.
Die Klasse schlurfte lustlos zurück ins Zimmer, darunter auch Mariell, die wie gewohnt ihren Platz neben mir einnahm. Während Frau Schuter am Lehrerpult um Ruhe bat, zog sie den Verschluss ihrer Tasche auf und zückte das Handy. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie das Display unter ihrem Tisch aufleuchtete. Innerlich zählte ich die Sekunden, die es brauchte, um den offenstehenden Chat zu lesen. Der, der eindeutig bewies, dass ihr fester Freund sie mit ihrer besten Freundin betrog.
Gleich würde es Ping machen. Gleich...
„DU BLÖDE SCHLAMPE!!!“
Ich fuhr zusammen. Zunächst war nicht klar, wem das galt, denn zeitgleich mit dem Schrei hatten sich sämtliche Köpfe in Mariells Richtung gedreht. Dann sauste etwas an meinem Ohr vorbei. Das Handy verfehlte Steffi nur knapp, die wie eine Furie aufsprang.
„Du hast ja wohl ein Knall!“, krisch sie entsetzt, ihre Freundin aber machte einen Satz über das Pult und stürzte sich auf sie.
Ein chaotischer Kampf entbrannte: Die Mädchen kratzten und schubsten sich, versuchten, einander auf die Tische zu drücken. Aus Angst einen Krallenhieb abzubekommen, flüchteten die Danebensitzenden von ihren Plätzen. Manche brüllten „Weibercatchen! Weibercatchen!“, einige zückten ihre Handys. Weit hinten gestikulierten die dünnen Ärmchen von Frau Schuter, im verzweifelten Versuch, sich Gehör zu verschaffen.
Dass derjenige, um den sich die Mädchen stritten, bereits an irgendeinem Strand hockte und die Enthüllung daher nicht live mitkam, fand ich etwas schade. Aber vielleicht würde ihm ja jemand aus der Klasse das Video schicken.