„Ich fass es einfach nicht“, sagte ich aufgebracht. „Der Ladenheini und meine Mutter!“
Lena-Marie hörte mir aufmerksam zu, während sie neben mir auf der sonnendurchfluteten Decke saß und am Strohhalm ihrer Schorle zog. Es tat gut, zumindest eine Person zu haben, bei der ich mich über meine Mutter auslassen konnte. Bei Chris war das nicht möglich. Wir pflegten noch immer unseren Bloß-nicht-über-die-Familie-reden-Umgang, der nicht mehr als oberflächliche Äußerungen zuließ. Auch über Hauke hatte ich nichts gesagt, und er verlor kein Wort darüber. Außerdem konnte ich mir gut vorstellen, dass er das Gregor-Thema nur mit einem dämlichen Scherz quittieren würde. Aber selbst wenn nicht, wäre das Risiko zu groß, dass die Frage über den Verbleib meines Vaters aufkommen würde. Lena-Marie hingegen wusste wie jeder andere in Wittelshain Bescheid, bei ihr müsste ich diese Gesprächswende nicht befürchten.
„Und keiner kann mir erzählen, dass da nichts zwischen denen läuft“, maulte ich weiter, während ich die Sonnencreme auf meine Schulter drückte und verrieb. „Sie kann mich ja nicht mal mehr ansehen. Wie ein kleines Kind versteckt die sich im Café. Das macht man nicht, wenn man sich nur als Freunde trifft.“
Ich verschränkte den Arm ungeschickt hinter meinem Rücken, kam aber nicht an die unteren Stellen und seufzte frustriert. Lena-Marie nahm die Tube und rutschte hinter mich.
„Vielleicht ist es ja nur etwas Vorübergehendes?“, bemerkte sie und verteilte die Creme sorgsam auf die Hautpartien, die nicht vom Bikini verdeckt wurden.
„Ist mir egal“, schnaufte ich. „Es ist widerlich.“
Wenn ich daran dachte, wie ich sie für die Unmengen an Arbeit bemitleidet und die Hausarbeit für sie erledigt hatte, wurde mir schlecht. Sicher traf sie Gregor schon seit längerem, hinter meinem Rücken, während ich wie eine Dumme von A nach B sprang, um alles unter einen Hut zu bekommen. Dabei hatte sie an den späten Abenden ihren Spaß zusammen mit diesem Ochsen gehabt. Ich fühlte mich absolut hintergangen. Sogar mit dem Gedanken, im Café einfach nicht mehr aufzutauchen, hatte ich gespielt. Sollte sie doch alleine zusehen, wie sie mit Theresas Fehlzeiten und allem zurechtkam. Das Kartenhaus ihres endlosen Verständnisses würde innerhalb von Tagen in sich zusammenfallen und sie würde einsehen, welchen wertvollen Schatz sie mit ihrer Gedankenlosigkeit vertrieben hätte.
Aber bereits die Vorstellung, wie Mahlers Café zu Grund ging, brach mir das Herz. Zu viel Arbeit hatte ich dort hineingesteckt, als dass ich Mitansehen könnte, wie es kaputt gemacht würde. Nein, was ich tat, empfand ich Strafe genug für meine Mutter: Ich kam arbeiten, wie immer pünktlich und mit den Einkäufen in den Händen. Es würde ihr ständig vor Augen führen, dass man sich auf mich - anders als auf sie - verlassen konnte. Und dabei würde sie sich elend fühlen. Sie hatte jetzt schon ein furchtbar schlechtes Gewissen, ich sah es an ihrem Blick , wenn ich kalt an ihr vorbeilief und nur das nötigste mit ihr beredete. Allein die Tatsache, dass sie Gregor nicht noch einmal mit zu uns nach Hause nahm, sprach Bände.
Lena-Marie rückte wieder von mir ab und zog nachdenklich an ihrer Schorle.
„Na ja, aber sie scheint einsam zu sein“, sagte sie.
Ich sah sie verständnislos an.
„Quatsch, sie hat doch mich.“
Sie lächelte verlegen. Natürlich war das etwas anderes, das wusste ich selbst. Ich wollte nur nicht zugeben, dass ich naiv genug war zu denken, sie würde sich nach Papa keinem anderen mehr nähern.
„Manche verstecken ihre Einsamkeit einfach nur gut“, erwiderte Lena-Marie leise.
Augenblicklich bekam ich ein schlechtes Gewissen. Eigentlich war ich zu ihr gekommen, um sie aufzuheitern und seit Stunden redete ich nur von Gregor und meiner Mutter, was nicht besser war als das Liebesgeplänkel in der Schule. Was hatte dieser Frühling nur an sich, dass er alle durchdrehen ließ? Früher war das alles einfacher gewesen. Jungs und Mädchen hatten einander abstoßend gefunden, Mama war verheiratet mit dem besten Mann der Welt und Lena-Marie war das kleine Lenchen mit den Pausbacken, das sich voll Elan zu sämtlichen Untaten anstiften ließ. Jetzt, mit dem scheuen, beinahe traurigen Gesichtsausdruck erkannte man sie kaum wieder.
Ich streichelte ihr aufmunternd über die Schulter und fummelte etwas aus meinem Rucksack.
„Sieh mal“, sagte ich und hielt ein 1-Euro-Stück hoch. „Das lass ich jetzt verschwinden.“
Sie runzelte die Stirn, folgte der Münze aber aufmerksam als ich diese von einer Hand in die andere warf. Ich schloss und öffnete sie, damit sie sicher sein konnte, dass die Münze in meiner Linken lag. Dann warf ich erneut, schloss die Rechte, rieb die Fingerspitzen aneinander und präsentierte sie ihr. Sie war leer. Ein Lächeln huschte über Lena-Maries Mund.
„Und jetzt sieh mal nach deinem Glas“, forderte ich sie stolz auf.
Sie blickte auf den Platz neben sich, auf dem eben noch ihr Getränk stand. Ihre Augen weiteten sich, mit einem Glanz darin, den ich von damals kannte, wenn ich ihr eine Dummheit vorgeschlagen hatte. Vielleicht war das Kind in ihr - das verspielte, witzige Lenchen - noch nicht ganz verschwunden.
„Wie hast du das gemacht?“
Ich lehnte meinen Oberkörper etwas zur Seite, damit sie das Glas dahinter entdeckte. Kichernd nahm sie es wieder zu sich.
„Interessierst du dich jetzt für Zaubertricks? Das ist ja ziemlich cool.“
Ich quittierte es nur mit einem verschmitzten Lächeln. Wenn sie wüsste, dass es mehr als ein Zaubertrick war, eine waschechte Täuschung, die mir beim Taschendiebstahl helfen würde, sie würde aus allen Wolken fallen. Möglicherweise würde sie es gar nicht schlimm finden, vielleicht sogar aufregend, so wie ich? Dann könnte ich ihr auch von Chris, der Fabrik und unseren Streifzügen erzählen. Es wäre schön, dass mit jemanden teilen zu können, von dem ich wusste, dass er dichthielt. Und dann, wenn ich mir sicher wäre, dass sie es auch wollte, könnten wir zu dritt losziehen. Jeder von uns hätte dadurch ein geringeres Risiko und Lena-Marie wäre nicht länger alleine. Eine Win-win-Situation sozusagen.
„Und wo ist die Münze?“, fragte sie mit aufgeregter Stimme.
Ich grinste und beugte mich zu ihr vor, um meine Hand an ihrem Kopf vorbeizustrecken. Jetzt musste eben der alte Kindertrick herhalten. Neben ihrem Ohr ließ ich die Münze fallen, fing sie auf und hielt sie hoch. Sie lächelte, als ihr Blick von der Münze zu mir wanderte. Ihre Wangen hatten durch das Sonnenbad ein leichtes Rot angenommen, die gesprenkelten Tupfer verschwanden darunter beinahe.
Dann zuckte ihr Kopf vor.
Ich machte einen Satz zurück. Ihre Lippen hatten meine nur am Rand berührt, doch deutlich genug, dass es kein Versehen gewesen sein konnte. Sie sah erschrocken aus. Genauso wie ich. Jetzt verteilte sich das Rot über ihr gesamtes Gesicht.
„Tut-tut mir leid“, stammelte sie. „I-Ich dachte...“
Was?! Was dachte sie denn?
Hektisch zog ich mein Kleid über, schnappte meine Tasche und stürmte durch den Garten auf die Straße.