„Dacht schon, das dein Bruder“, sagte Chris, als wir mein Haus hinter uns ließen.
Ich runzelte die Stirn. Versuchte er es tatsächlich mit Smalltalk bei mir? Das sah ihm nicht ähnlich, aber vielleicht brauchte er auch nur etwas Zeit, um aufzutauen.
„Ich habe keine Geschwister. Ich glaube, ich war meinen Eltern schon anstrengend genug.“
Er blickte mich skeptisch an.
„Bullshit. Warst bestimmt voll die Barbie. Mit rosa Puppenkrams und so'n Scheiß.“
Das hätten sich meine Eltern, allen voran mein Vater, sicher gewünscht. Bei dem Gedanken an mich in einem süßen Prinzessinenkleid mit Krönchen musste ich unwillkürlich lachen. Ich hätte es innerhalb von Minuten mit meinen wüsten Aktionen vollkommen besudelt und zerstört.
„Hast du denn Geschwister?“, fragte ich geradeheraus.
Wenn er schon in Plauderlaune war, konnte ich das genauso gut nutzen, um ihn ein wenig aus der Reserve zu locken. Er holte sein Zippo heraus, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch in langen Zügen in die Luft.
„Nee“, antwortete er schließlich. „Aber mich würd‘s nich wundern, wenn meine Alte wieder 'n Balg geworfen hat.“
Ich wartete auf mehr, aber er hielt weitere Ausführungen wohl nicht für notwendig.
„Und wo ist sie jetzt?“, hakte ich nach.
Er zuckte mit den Achseln und betrachtete das Zippo in seiner Hand.
„Irgendwo in Berlin und lässt sich von ihrem Sugardaddy bumsen.“
Dann warf er das Feuerzeug in die Höhe. Im Sonnenschein flackerte das Silber kurz auf und fiel ihm wieder sicher in die Hand.
„Das Ding hier is seins“, erklärte er mit einem Grinsen. „Hats mir mal voll in die Fresse gehaun.“
Sein Lächeln gefror, während er es betrachtete.
„Dann hab ich's ihm geklaut und seine beschissene Bonzenjacke abgefackelt.“
„Klingt fair“, sagte ich vorsichtig. „Was ist dann passiert?“
Er steckte es lächelnd wieder ein.
„Hat einen totalen Ausraster bekommen, die ganze Bude zusammen geschrien: 'Meine Hilfiger! Du Bastard hast meine Hilfiger verkohlt!' War irre witzig.“
Ich stimmte in sein Lachen ein.
„Also, was geht heut so?“, fragte er und schnippte die Zigarettenkippe gegen den Kopf eines Gartenzwergs, an dem wir vorbeikamen.
Es war mehr eine laute Überlegung, als eine an mich gerichtete Frage, denn meist entschied er, was wir als Nächstes taten.
„Nein, nein, jetzt möchte ich die Geschichte auch zu Ende hören.“
Gähnend hob er die Hände und verschränkte sie hinter dem Kopf.
„Ach, er hat mich rausgeschmissen“, antwortete er trocken. „Im Shirt vor die scheiß Tür gesetzt, mitten im Winter.“
Die anfänglich gute Laune erstarb. Das musste der Grund sein, weshalb er jetzt bei seinem Vater lebte. Einem Mann, der sich offensichtlich mehr um den eigenen Alkoholismus kümmerte, als um ihn.
„Und meine Alte hats nich mal für nötig gehalten, mir Geld zuzustecken“, ergänzte er, und das erste Mal hörte ich Verbitterung in seiner Stimme. „Kam nur mit 'n paar beschissenen Klamotten an.“
In diesen flüchtigen Moment schien die Sorglosigkeit, die ihn sonst umgab, vollkommen auszusetzen, und selbst im Tageslicht wirkten seine Augen dunkler. Ich hätte am liebsten seine Hand genommen, nur ganz kurz. Aber so jemand war er nicht. Keiner, an dem man sich anschmiegen und den man mit leeren Phrasen trösten konnte.
„Das ist...“, begann ich, auf der Suche nach den richtigen Worten.
„Scheiße!“, zischte ich und machte einen Satz zurück, um mich hinter der Gartenzaunecke zu verstecken, die wir gerade passieren wollten.
Chris sah mich verwundert an.
„Ducken!“
„Hä?“
Mein heftiges Winken veranlasste ihn schließlich, neben mir in die Hocke zu gehen, nicht ohne genervt die Augen zu verdrehen. Ich spähte über die Holzlatten. Mariell lehnte ihr Rad an das weiß gestrichene Gartentor, warf sich das Haar über die Schulter und spazierte ins Haus dahinter. Vor Erleichterung atmete ich schwer aus. Es wäre ein Desaster geworden, wenn sie mich zusammen mit Chris gesehen hätte. Sie würde allen erzählen, dass die nette, kleine Mahler mit dem Assi-Martens – wie er in der Schule genannt wurde – um die Häuser zog. Und es würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Bisher hatte ich Glück gehabt, aber diese Beinahe-Begegnung führte mir vor Augen, dass ich vorsichtiger sein musste.
„Warum verstecken wir uns vor 'ne kleinen Bitch?“, fragte Chris kopfschüttelnd, als er wieder aufstand.
„Das war Mariell. Die geht auf meine Schule.“
„Hast du mit der Stress?“
Noch nicht, entgegnete mein Kopf, während ich meine Antwort abwägte.
„Sie ist auf jeden Fall wirklich eine Bitch“, sagte ich schließlich, um es dabei zu belassen.
„Auf meiner Schule wurden Arschlöcher immer verprügelt“, erklärte er platt, als würden wir über das Wetter reden. „Da gabs mal 'n Typ in meiner Klasse, der hat gestottert wie'n Spasti. Und in der Pause haben wir uns den geschnappt und auf'm Klo 'ne Abreibung verpasst.“
Er gluckste bei der Erinnerung daran.
„Einmal haben wir ihn das ganze Pisswasser trinken lassen. Hat alles vollgekotzt.“
Was mochte das nur für eine Schule gewesen sein, die solche Dinge zuließ? Natürlich wusste ich aus Erzählungen, dass es in Berlin Einrichtungen gab, auf denen es zuging wie im Gefängnis. Dort wurde man am Eingang auf Waffen überprüft, und während sich der eine Teil der Schülerschaft gegenseitig verprügelte, dröhnte sich der andere mit Cannabis zu. Die Schulen auf dem Land hatten das viel besser im Griff. Hier gab es keine aggressiven Teenager, die ihre Kämpfe mit Fäusten austrugen und schon gar keine Drogen. Obwohl Mariell ein wenig Toilettenwasser nicht schaden könnte. Selbstverständlich war das keine Option, auch wenn der Gedanke, wie sie kotzend aus dem Mädchenklo rennen würde, sehr verlockend war.
„Guck mal, die Bitch hat ihr Rad nich abgeschlossen.“
Sofort sprang eine Idee wie ein Funke in Chris Augen und ließ sie aufleuchten. Ich kam hinter dem Zaun hervor und folgte ihm, nicht ohne meinen Kopf in alle Richtungen zu wenden, um mich zu vergewissern, dass niemand uns beobachtete.
Tatsächlich hatte Mariell das Fahrrad nicht gesichert. Keine Kette oder Ähnliches konnte einen davon abhalten, es einfach mit sich zu nehmen. Mit seinem glänzendroten Rahmen und dem tadellosen schwarzen Sattel vertraute es ganz dem Anstand der Wittelshainer.
Noch bevor Chris etwas tun oder sagen konnte, griff ich nach dem Lenker und schob es in schnellen Schritten die Straße herunter.