Die Aufregung hatte mich gepackt wie ein kleines Kind. Wir waren drüben! Mit kribbeligen Händen fuhr ich über die Backsteinfassade, um meinem Verstand klar zu machen, dass es keine Einbildung war. Sie fühlte sich kalt und hart an. Es beeindruckte mich, wie lange sie schon Zeit und Verfall trotzte. Meine Augen schienen alles aufsaugen zu wollen, von den dunkelroten Ziegeln, die im Halbbogen die Fenster umfassten, über die hellen Zierstreifen, die bis fast unters Dach reichten, bis zu den farbigen Hinterlassenschaften ehemaliger Feiernder.
Neugierig stieg ich auf einen der niedrigen Fenstersimse und spähte über die Bretter ins Innere. Aber selbst ein Blick durch das zerbrochene Glas ließ nicht mehr erkennen als schemenhafte Umrisse in trüber Dunkelheit. Vielleicht fiel das Licht an einer anderen Seite besser ein?
Ich fuhr zusammen, als es krachte. Ganz in der Nähe hatte Chris die Stange gegen ein Fenster geschlagen. Das Glas war in tausend Stücke zerplatzt. Er warf das Metall achtlos auf den Boden und stieg auf den Sims.
„Du gehst da rein?“, fragte ich.
Über den Zaun zu steigen war etwas vollkommen anderes als das Gebäude tatsächlich zu betreten.
„Klar, was sonst. Kommste?“
Er bemerkte mein Zögern und seufzte genervt.
„Wie alt biste? Fünfzehn?“
„Vierzehn.“
„Und da biste noch nie wo eingestiegen?“
Skeptisch sah ich in die Baumreihen hinter uns. Was, wenn uns jemand ertappte?
„Außerdem is es eh schon n Einbruch“, ergänzte er fast nebensächlich.
Ich dachte kurz darüber nach.
„Also eigentlich bist du eingebrochen. Ich bin nur... eingeturnt.“
Er lachte.
„Erzähl das mal den Bullen.“
Damit hob er sein Bein über die Holzbretter und verschwand im Dunkeln.
„Komm jetzt!“, rief er aus dem Inneren.
Ich atmete tief ein, stieg auf den Sims und folgte ihm, bedacht darauf, dem spitzen Glasbruch an den Rändern nicht zu nahe zu kommen. Auf der anderen Seite kamen meine Füße auf hartem Beton auf. Staub und Dreck wirbelten durch die Luft. Neben mir hörte ich ein Klicken und Chris Gesicht wurde im Schein des Zippofeuers beleuchtet.
„Braves Mädchen“, schnurrte er und grinste breit.
Heiß schoss es mir in die Wangen.
„Man sieht hier kaum was“, sagte ich, um mich wieder ganz auf die Sache zu konzentrieren.
Einzig die dicken Steinsäulen einige Meter weiter und Papierfetzen auf dem Boden waren durch das spärlich einfallende Sonnenlicht sichtbar.
„Oben wird’s besser sein“, erklärte Chris und ging voran.
Unter unseren Schritten knirschten Glassplitter, als wir uns einen Weg durch die Halle bahnten. Ein paar Mal dachte ich, etwas aus einer dunklen Ecke rascheln zu hören. Hier hatten sich bestimmt Ratten, Marder oder sonst was eingenistet. Ich rieb mir die Gänsehaut von den Armen, nicht allein wegen dem Gedanken, einem wilden Tier zu begegnen, sondern weil es hier drinnen deutlich kälter war. Hätte ich es damals als Kind bis hierher geschafft, wäre ich sicher vor Angst wieder getürmt.
In der Nähe der vernagelten Eingangstür fanden wir die Treppen zum zweiten Stockwerk. Sie bestanden wie der Boden aus hartem Stein, das Gelände aus dicken Metallstreben, daher konnten wir sichergehen, dass sie uns trug. Obwohl Chris sich darüber wenig Gedanken zu machen schien, denn er nahm zwei Stufen gleichzeitig, um schnellstmöglich oben sein zu können.
„Is das geil“, rief er, noch bevor ich den letzten Absatz erreicht hatte.
Seine Stimme hallte durch den leeren Raum, der sich weit bis zur gegenüberliegenden Außenmauer zog. Es war deutlich heller geworden, obwohl es der Sonne nicht möglich war, vollständig durch die verschmutzten Fenster zu brechen. Auf dem nackten Boden lagen hier und da Ansammlungen von leeren Bierflaschen, kaputten Ziegelstücken und Zigarettenkippen. Die Wände waren voller Graffiti und vergilbter Tapete, die an einigen Stellen abblätterte und den roten Stein dahinter offenlegte. Auf der linken Seite trennte eine Wand kleinere Zimmer vom Hauptraum.
Alle wurden von Chris begeistert observiert, während ich meinen Rucksack auf den Boden sinken ließ und an eines der hohen Fenster trat. Ich konnte die Stieleiche sehen, auf der ich hinübergeklettert war und die offene Stelle im Bauzaun. Die mussten wir später wieder irgendwie verschließen, damit niemand bemerken würde, dass wir in der Fabrik gewesen waren.
„Komm mal, Lis“, rief Chris aus einem der Nebenräume. „Hier is n riesen Loch.“
Lis? Sollte ich beleidigt sein, weil er meinen Namen auf diese kleine Version reduzierte, oder glücklich, weil ich schon jetzt einen Spitznamen bekam? Ich entschied mich für Letzteres.
Hinter dem Türrahmen fand ich ihn in einem winzigen Raum mit nur einem Fenster, das beinahe vollständig von Efeu überwuchert war. In der Ecke lag eine alte Matratze, von der ich nicht wissen wollte, wer und warum man sie hergebracht hatte.
„Guck dir das an“, raunte Chris, der mit einer brennenden Zigarette vor dem Loch stand und die Asche hineinschnippte.
Das musste die Stelle sein, durch die Kriewitz vor über zehn Jahren gebrochen war. Der Boden der unteren Etage war von hier aus nicht zu erkennen, die Öffnung führte einfach in die Schwärze. Bedrohlich und still lag sie da, als wartete sie darauf, jemand anderes in die Tiefe zu reißen. Ich wurde an den Schultern gepackt und ruckartig nach vorne geschubst. Mein spitzer Schrei hallte durch die Fabrik, als er mich im nächsten Moment wieder zurückzog.
Chris lachte.
„Du Arsch!“, wetterte ich und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen.
„Mach dir nich ins Höschen“, witzelte er.
Zornig stampfte ich in die Halle zu meinem Rucksack. Ich hatte hier genug Zeit verschwendet. Zuhause wartete ein Berg Arbeit auf mich und schließlich konnte sich Chris damit zufriedengeben, mit meiner Hilfe reingekommen zu sein. Sollte er seine Scherze mit einer anderen treiben.
„Biste jetzt sauer, oder was?“ Er kam mit einem selbstgefälligen Grinsen auf mich zu, während ich den Rucksack schulterte.
„Nein“, antwortete ich bestimmt. „Ich finde es hier nur ziemlich öde.“
„Machen wirs interessanter.“
Er bückte sich nach einem Ziegelstück und ließ es in der Hand auf und ab hüpfen.
„Drei Euro fürs äußere Glas, Einen für die daneben und fünf, wenn man die Mitte trifft.“
Dann schleuderte er den Stein gegen das Fenster. Unter lautem Klirren zerbrach eines der Quadrate.
„Yeah, drei Euro“, jubelte er. „Den Start kann man nich toppen.“
Er hob ein weiteres Stück auf und reichte es mir. Ich zögerte. Wenn du jetzt gehst, kannst du noch so tun, als hätte dieser Nachmittag niemals stattgefunden, riet meine innere Stimme. Du kannst noch zurück, die Schule mit Jansen ertragen, die langweiligen Hausarbeiten erledigen und dir die Schichten von Theresa aufdrücken lassen.
Erwartungsvoll drückte mir Chris den Stein in die Hand. Er fühlte sich kühl und kantig an. Ein perfektes Geschoss.
Resigniert schüttelte ich den Kopf.
„Ich kann nicht werfen.“
„Bullshit, jeder kann werfen“, erwiderte er und trat hinter mich.
Seine linke Hand legte sich auf meine Hüfte, mit der Rechten umschloss er die Faust. Zum zweiten Mal raste mir das Herz. Er hob meinen Arm in die Höhe.
„Du darfst nich von oben schmeißen“, erklärte er und ließ sie wieder auf Hüfthöhe sinken. „Besser is es von hier.“
Ich schloss die Augen, um alle Aufmerksamkeit auf seinen warmen Atem an meinem Ohr und den Händen auf meinem Körper zu richten. Warum strahlte er so eine Hitze aus? Oder war ich einfach nur kalt?
„Dann drehst dich bisschen nach hinten, für den Schwung, verstehste?“ Er schob meine linke Hüfte etwas nach vorne, damit die rechte dem Wurfarm automatisch folgte.
„Und dann gib ihm.“
Sein Atem verschwand zusammen mit der Wärme, aber das Kribbeln in meiner Faust blieb wie ein Andenken. Mit Abstand betrachtete er mich, darauf wartend, dass seine Erklärungen Erfolg zeigten. Ich atmete tief ein und holte aus. Niemanden würde es stören, wenn das Fenster zu Bruch ging, sagte ich mir. Und wenn wir diesen alten Ziegelhaufen nicht demolierten, würde es jemand anderes tun. Wen kümmerte es also?
Der Stein sauste durch die Luft und kurz dachte ich, er würde das Fenster verfehlen, so schief wie ich geworfen hatte. Aber er schlug auf die Scheibe, riss klirrend ein Loch hinein und verschwand auf der anderen Seite. Stolz wandte ich mich Chris zu, damit ich sein beeindrucktes Gesicht sehen konnte.
„Nich schlecht. Das war n Einer. Aber noch führ ich mit Zwei.“
Wir warfen abwechselnd. Die Halle füllte sich mit den Geräuschen von zerschmetterndem Glas und Jubelrufen. Je länger wir spielten, desto besser wurde ich. Beim zweiten Fenster hatte ich sogar einen Fünfer geschmissen und Chris musste sich ins Zeug legen, wieder aufzuholen. Dabei versuchte er mich durch nervige Zwischenrufe abzulenken, damit ich nicht traf. Dafür warf ich ihm nach hohen Treffern Betrug vor und bestand auf Streichung.
Als die Sonne rot durch die Löcher sickerte, hatten wir vier Fenster eingeschlagen und beschlossen, es dabei zu belassen. Meine Schulter schmerzte durch die Anstrengung, aber das war es Wert gewesen. Und auch wenn Chris gewonnen hatte, fühlte es sich für mich wie ein Sieg über diesen Nachmittag an.
Ich schnappte meinen Rucksack und betrachtete das Graffiti an den Wänden.
„Du weißt schon, dass man School mit Sch schreibt?“
Er sah auf und grinste breit.
„Hat die Alten sicher mehr abgefuckt als das Bild.“
„Gefreut hat sie es auf jeden Fall nicht“, antwortete ich schmunzelnd und drückte ihm den Gewinn von Fünf Euro in die Hand.
„Die hol ich mir wieder.“
Ohne darüber nachzudenken, was es eigentlich bedeutete, hatte ich diese Redensart benutzt. Und ohne eine peinliche Pause entstehen zu lassen, antwortete er: „So wie du wirfst, zieh ich dich das nächste Mal noch mehr ab.“