Die Glastüren schwangen wie eine Einladung auf und ließen mich den Laden betreten, der mir so vertraut war wie mein eigenes Heim. Doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Die Luft schien elektrisch aufgeladen, stellte die Härchen auf meinen Armen auf. Ich warf einen verstohlenen Blick auf den Kassenbereich. Mandy und Rita waren wie gewohnt am Quatschen. Von Gregor keine Spur, glücklicherweise. Meine Füße bogen automatisch in die Obst- und Gemüseabteilung, die man passieren musste, um in den hinteren Teil des Supermarkts zu kommen. Langsam lief ich an den Obstregalen vorüber, streifte mit den Fingerspitzen die ordentlich platzierten Früchte, während sich mein Kopf einen Plan zurechtlegte. Ich war nicht mehr aufgeregt. Das hatte ich auf dem Parkplatz wie eine Jacke abstreifen können. Das Herz schlug mir gleichmäßig und langsam in der Brust als ginge ich einer alltäglichen Beschäftigung nach. Bei den Tafeltrauben, die unter der Beleuchtung in ihrem verführerischen dunkelrot glänzten, hielt ich inne. Hinter den Rispentomaten stand kein Mädchen und beobachtete mich. Wie lange war das jetzt her?
Meine Mundwinkel zuckten kaum merklich nach oben. Jetzt wusste ich, was ich abgreifen wollte. Klein genug, um es ungesehen durch die Kasse schmuggeln zu können, aber von so großer Bedeutung, dass Chris mich dafür lieben würde. Ich schlenderte die Gänge entlang, musste darauf achten, vor lauter Freude nicht ins Hüpfen zu geraten. Unauffällig bleiben, wiederholte ich gedanklich wie ein Mantra. Aus der Ferne erkannte ich vor dem bunt bestückten Süßigkeitenregal die kleine Sofia mit ihrem Vater. Kurz dachte ich darüber nach, wie unsagbar langweilig mein Leben noch wäre, wenn die beiden anstatt Chris damals den Laden betreten hätten. Eigentlich sollte ich ihnen für ihre Verspätung danken. Ich lächelte in mich hinein bei dem Gedanken, wie verwirrt Herr Fern bei der Danksagung wohl dreinschauen würde und bog um die Ecke zum Hauptgang in Richtung Kassen.
Da hingen sie. Als hätte sie niemand seither bewegt, warteten sie in ihren glänzenden Plastikpackungen darauf, von den Metallstäben gepflückt zu werden. Flüchtig sah ich mich um. Einige Meter weiter standen ein paar Leute, vertieft in ihren Einkaufslisten. Ich erkannte, dass eine Kamera diesen Bereich abdeckte. Chris Annahme, ich hätte Schuld an seinem verpatzten Diebstahl gehabt, war damit endgültig widerlegt. Später einmal würde ich ihm das vorhalten. Aber jetzt musste ich mich konzentrieren.
Hinter mir durchbohrte mich die Linse, vor mir grinste das aufgedruckte Häschen. Die Muskeln meiner Finger zuckten vor Anspannung, schickten prickelnde Wellen bis in die Handgelenke. Sie zitterten leicht, als ich die Packungen von der Stange schob. Tausend Fragen schossen mir gleichzeitig durch den Kopf. Ob Schraders Videoaufnahmen speicherte und wie lange, ob jemand neben mir auf mich aufmerksam wurde, mich sogar beobachtete... Ohne den Kopf auffällig zu drehen, prüfte ich nochmals die Umgebung. Alles schien sicher. Ich löste einige Batterien der unteren Reihen, von jeder eine und schob die hinteren nach vorne. Dann hängte ich sie in die beinahe leere Schiene nach oben, während meine Hand, voll von lächelnden Häschen, sich nach unten neigte. Aus dieser Entfernung könnte die Kamera die Markennamen nicht erfassen. Sie würde lediglich festhalten, dass die Metallstäbe ebenso gefüllt waren wie vor meinem Auftauchen. Die Packungen in der Hand, die sich gegen den Bauch drückte, wären für die Linse nicht erkennbar.
Ohne Eile verschwand ich zwischen den Regalen, auf der Suche nach einem geeigneten Platz, um die Häschen einzustecken. Umringt von Windeln und Badreinigern dann schob ich eines in meine Hosentasche. So weit, so gut. Bis mir auffiel, dass diese zu eng für mehr waren. Das würde schnell auffallen. Frustriert legte ich den Kopf in den Nacken. Wie schwer konnte das bitte sein? Chris schaffte es schließlich auch ohne Weiteres. Nur dass seine Klamotten deutlich lockerer lagen. Ich seufzte schwer, als mir klar wurde, dass ich das Problem mit einer Tasche nicht gehabt hätte. Und die restlichen Batterien einfach liegenlassen? Nein, ich hatte auf Risiko gespielt, jetzt mussten auch allesamt mit. Es brauchte nur eine kleine Idee. Im nächsten Moment schlug ich mir meiner eigenen Dummheit wegen gegen die Stirn und schon machte ich mich mit den versteckten Packungen auf dem Weg zur Kasse.
Mandy und Rita unterbrachen ihren Redefluss, als ich mit leeren Händen am Band vorbeilief.
„Heute nichts dabei?“, fragte Mandy dröge, wobei ihre schmalen Augenbrauen nach oben wanderten.
„Habe kein Geld dabei“, antwortete ich knapp. „Vergessen.“
„Kannst och uffschreiben lassen“, schaltete sich Rita ein und plötzlich fühlte ich mich zwischen den Frauen wie in einer Zange, die sich immer enger um mich schließen wollte.
Aufmerksam musterten sie mich. Wäre ich eine Fremde, hätten sie sich nicht weiter darum geschert, dass ich ohne etwas zu kaufen wieder gehen wollte, aber so...
„Ach, jetzt bin ich ja schon fast draußen“, presste ich heraus.
Ritas Schulter zuckte nach oben, was so viel wie 'Da kann man nichts machen' bedeutete und meine Augen wanderten automatisch zu der Bürotür auf der gegenüberliegenden Wandseite.
„Ist Gregor da?“, fragte ich unvermittelt.
„Der hat heut frei.“
Ich nickte, versuchte, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen, und Schritt mit einem „Na, dann“ aus der Zange. Die schweißnassen Handflächen rieb ich heimlich an der Jeans ab. Dabei strichen sie über die kleinen ausgebuchteten Stellen der Seiten. Ich musste nur noch hier raus. Aber nicht überstürzt, sonst würde das ganze Zeug herausfallen und sich auf dem Boden verteilen. Als hätte ich einen Bombengürtel am Körper, versuchte ich, gewollt langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Noch wenige Meter und ich hätte es geschafft.
„Ach, Melli?“, erklang plötzlich Ritas Stimme hinter mir.
All mein Gewicht schien in meine Beine zu sacken. Sie bewegten sich keinen Zentimeter mehr weiter. Abhauen is besser als kämpfen, hörte ich Chris in meiner Erinnerung sagen. Aber würde das Sinn machen? Jeder wusste, wo ich wohnte, wo ich zur Schule ging und wo meine Mutter arbeitete. Mellis Leben war ein offenes Buch.
Das Herz schlug mir dumpf in der Brust, als ich mich umdrehte. Rita stützte die verschränkten Arme vor ihr auf den gläsernen Sensor und fixierte mich ernst.
„Kannste dem Grejor ma sajen, dat der hier nich wie een verliebter Jockel rumstolzieren soll? Det is ja nich auszuhalten.“
Augenblicklich lachte Mandy schrill auf und auch auf Ritas Gesicht machte sich ein hämisches Grinsen breit. Meine Schultern entspannten sich. War ja klar, dass diese Hühner nichts Besseres zu tun hatten, als sich über mich lustig zu machen. Hätte ich zuvor ein schlechtes Gewissen wegen der Batterien gehabt, es hätte sich in diesem Moment auf Nimmerwiedersehen verabschiedet.