Atemlos kam ich an meinem Haus an. Entgegen meiner Erwartung stand dort nicht nur der kleine Benny, sondern auch dessen Mutter. In einem grässlichen Hosenanzug tippte Judith Fern mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs auf den Steinweg und stemmte die drahtigen Arme in die Hüfte.
„Da bin ich“, keuchte ich, als ich vor ihnen zum Stehen kam und merkte erst Sekunden später, wie überflüssig diese Bemerkung war.
„Es ist Zehn nach Vier“, erwiderte sie schnippisch.
Sie wollte also mit den Offensichtlichkeiten weitermachen, wie schön. Ich riss mich zusammen, um mir ein „Ich weiß“ zu verkneifen, denn Leute, die mich bezahlten, sollte ich nicht unnötig verärgern. Auch wenn das bei Frau Fern eine kleine Herausforderung darstellte.
„Entschuldigung“, sagte ich. „Es kam etwas Wichtiges dazwischen.“
Um genau zu sein, sechs Packungen Batterien in meiner Shorts und einer Zunge in meinem Hals. Auch das verbiss ich mir und fummelte den Hausschlüssel heraus, um nicht weiter in ihr misslauniges Gesicht sehen zu müssen.
„Die 60 Minuten machen wir natürlich trotzdem voll.“
Sie gab einen entrüsteten Ton von sich.
„Benny hat sich das letzte Mal stundenlang auf dem Spielplatz herumgetrieben“, begann sie. „Deshalb werde ich ihn nun jedes Mal bei dir abholen müssen.“
Ich warf einen enttäuschten Blick auf den Kleinen, der sich wenig um die Aufregung seiner Mutter scherte, sondern dabei war, den Tulpen die bunten Köpfe auszureißen. Das hatte ich nun davon, mit einem 8-Jährigen, der die Aufmerksamkeitsspanne einer Fliege besaß, eine Vereinbarung zu schließen. Kleiner Dummkopf!
„Und später als Fünf Uhr kann ich ihn nicht holen“, meckerte Frau Fern weiter. „Ich habe auch meine Termine. Und unser aller Tag hat nur 24 Stunden, Melissa.“
Was eine überhebliche Kuh. Wenn sie weniger Zeit damit verschwenden würde, zur Kosmetikerin zu rennen und sich mit ihrem Mann zu streiten, könnte sie ihrem Sohn selbst bei den Schularbeiten helfen. Stattdessen drückte sie ihn so oft wie möglich an andere Leute ab, damit die die Betreuung übernahmen.
„Es kommt nicht wieder vor“, erwiderte ich, während ich die Haustür aufschloss und sie Benny einen mütterlichen Kuss aufdrückte, den er im nächsten Moment angeekelt wegwischte.
Womöglich waren wir beide froh, als sie sich verabschiedete und wir ihr Gezeter in der Wohnung nicht länger ertragen mussten. Seufzend schmiss ich den Schlüssel auf das Garderobenboard. Ab jetzt müsste ich auf der Hut sein. Ich dürfte den Kleinen nicht noch einmal früher gehen lassen und schon gar nicht erlauben, dass Chris hier noch einmal auftauchte, um den Unterricht zu stören.
Während Benny heiter das Sofa ansteuerte, ging ich zum Kühlschrank und kippte eine halbe Flasche Wasser in mich. Die Erkenntnis, dass ich kein Lernmaterial für heute vorbereitet hatte, ließ mich leise aufstöhnen. Dann würden wir eben nur Aufgaben aus dem Schulbuch machen, letztendlich interessierte es ohnehin niemanden, wie ich den Kindern etwas beibrachte, solange die Noten stimmten.
„Boah, krieg ich das?“, rief Benny begeistert aus dem Wohnzimmer.
Ich drehte den Kopf, um zu sehen, was er nun schon wieder gefunden hatte. Er zeigte auf ein kleines Bündel mit Schleife, dass auf dem niedrigen Tisch lag. Daneben stand ein Muffin mit zartblauem Sahnetopping und weißen Streuseln, der von Benny mit leuchtenden Augen begutachtet wurde. Ich öffnete die Schleife des Geschenks und heraus kam ein hellgrünes Sommerkleidchen.
„Was? Das Kleid?“, fragte ich und schmunzelte.
Er verzog übertrieben das Gesicht und ich stellte das begehrte Zuckerteil an den Rand, doch nicht aus seinem Sichtfeld.
„Du packst erstmal deine Schulsachen aus und wir pauken ein bisschen. Danach kannst du den Cupcake haben.“
Jetzt nickte er begeistert und zog die Hefte aus dem Ranzen. Mit Süßigkeiten hat man noch jedes Kind herumbekommen. Besonders, wenn deren Eltern penibel darauf achteten, diese zu verbieten. Nicht mit mir, du Beißzange, dachte ich und amüsierte mich über meinen kleinen Racheakt an Frau Fern.
Das Handy summte an meinem Hintern, noch bevor wir richtig beginnen konnten. Chris schickte ein Fragezeichen. In der Überstürzung hatte ich ihm keine Erklärung liefern können. Ich sendete ein kurzes ‚Nachhilfe. Halb Sechs wieder da‘ und dachte darüber nach, welche Geschäfte wir zu dieser Zeit noch aufsuchen könnten, als es erneut vibrierte. Dass er keine Stunde auf mich warten wollte, löste ein kleines Glücksgefühl in mir aus. Aber die Nachricht kam nicht von ihm. Meine Mutter schrieb, sie würde heute früher schließen und schlug vor, eine Pizza zu bestellen und dabei eine Partie Uno zu spielen. Am Vormittag noch verstoßen, am Nachmittag wieder heiß begehrt. Ein kurzer Taumel überkam mich, als ich beide Chatverläufe betrachtete. Im Augenwinkel sah ich das Kleidchen auf dem Boden liegen. Meine Laune war noch viel zu gut, als dass ich ihr im Augenblick hätte sauer sein können. Und sie hatte sich sichtbar Mühe mit ihrer Entschuldigung gegeben.