Ich saß auf der harten Holzbank und starrte das Gesangbuch in der Pultleiste an. Was vorne unter der Kanzel stand, wollte ich nicht sehen. Die anderen waren längst aus der Kirche gegangen, meine Mutter lehnte weinend an Gregor, während der sie herausführte. Jemand hatte mir die Kollekte auf den Schoß gelegt. Es war die verschnörkelte Trinkgeldbox aus dem Café, bis oben hin gefüllt mit Kleingeld und Silberketten.
„Steck's ein“, raunte Chris von einer Seite.
„Konzentrier dich auf das Training, Mel“, mahnte mein Vater von der anderen.
Ich blickte zu ihm auf, doch sein Kopf blieb starr nach vorne gerichtet. Mit gelockerter Krawatte summte er die Melodie von Highway to hell. Er sah so müde aus.
„Du bist zu spät gekommen“, hörte ich mich dumpf sagen und kippte den Inhalt samt Box in meine Tasche.
Es klirrte wie zerspringendes Fensterglas. Dann lagen Chris Lippen auf mir. Seine Hände betasteten meinen Körper. Ich war plötzlich nackt, als er sich über mich beugte. Das Klirren schwoll an, hallte an den Wänden wieder, genauso wie das Klatschen zweier aufeinanderprallender Körper. Ich bekam Panik, alles war so laut geworden. Um uns standen Leute, die wehmütig auf mich heruntersahen.
„Das arme Mädchen. Das arme Mädchen“, murmelten sie.
Ich wollte, dass sie still waren, wollte, dass Chris aufhörte. Aber ich brachte keinen Ton heraus, denn auf meinem Gesicht lag ein besticktes Kissen. Es presste sich auf Mund und Nase, ließ mich nicht atmen. Ich schlug um mich, versuchte, es wegzureißen.
Ein Durcheinander an Gebrabbel hallte durch die Kirche:
„...Ich habe gehört, sie geht auf den Strich...“
„...sie hat die Krätze...“
„...sie klaut...“
„...sie lügt...“
Gleich würde ich ersticken. Gleich wäre ich tot.
Nah an meinem Ohr hörte ich die Stimme von Lena-Marie, zischend und eindringlich:
„Ich habe gehört, sie hat ihren Vater getötet.“
Unsanft kam ich auf dem Boden auf. Ich hatte wohl tatsächlich um mich geschlagen und war dabei aus dem Bett gefallen. Mein Shirt war schweißnass, während ich verwirrt nach dem Schalter der Nachttischlampe tastete. Erst als das Licht den Raum erhellte, kam ich Stück für Stück zurück in die Wirklichkeit. Es war nur ein Traum gewesen. Einer der Schrecklichsten seit langem, aber eben nur ein Trugbild. Ich raffte mich auf und grub die Nägel in meine Handflächen, damit mich der Schmerz komplett ins Jetzt und Hier beförderte. Ein Gutes hatte der Albtraum. Wortwörtlich hatte er mich aufgerüttelt und formte einen einzigen entscheidenden Gedanken: Ich musste hier raus.
Es war bereits der vierte Tag in Folge gewesen, in dem ich mich zuhause verbarrikadierte. Dabei hatte ich längst kein Fieber mehr. Meiner Mutter gegenüber hatte ich weiter die Kranke gespielt, was nicht sonderlich schwer war, denn in den wenigen Stunden am Abend, in denen sie hier war, bemutterte sie mich ihres schlechten Gewissens wegen nur allzu gerne.
Aber das Ganze musste nun ein Ende haben. Zu lange hatte ich mich versteckt, war im Haus umhergeirrt wie eine Wahnsinnige, in der festen Überzeugung, dass ich früher oder später von der Polizei abgeholt würde. Doch keiner kam. Weder Bäumer, noch Frau Weigart oder sonst wer, der mir nahelegte, mich endlich zu stellen. Auch Gregor war nicht mehr aufgetaucht. Zwischen all den Ängsten um meine Festnahme fragte ich mich manchmal, ob ich mir das merkwürdige Gespräch mit ihm nicht doch eingebildet hatte. Aber die Tatsache, dass die Reste der Kette in seinem Besitz waren, nahm mir die Illusion darauf. Ich konnte nur hoffen, dass er mir geglaubt und das Teil weggeworfen hatte.
Mit einem tiefen Seufzer schaltete ich mein Handy ein. Viel Zeit bis zum Morgen würde mir nicht mehr bleiben. Zwei Tage vor Ferienbeginn in der Schule aufzutauchen, wäre zwar ziemlich überflüssig, aber ich musste schleunigst wieder unter Menschen und zurück in den Alltag. Ansonsten würde ich womöglich vollkommen den Verstand verlieren.
Im Display blinkten sechs ungelesene Nachrichten und ein verpasster Anruf auf, allesamt von Chris. Seit vorgestern versuchte er, mich zu erreichen, und mit jeder Stunde des Ignorierens schien er hartnäckiger zu werden. Aber ich würde nicht nachgeben. Dabei hatte mir mein Zorn anfangs erfolgreich geholfen. Ich hatte ihn dafür gehasst, mich so weit gebracht zu haben, dass ich bei jemandem eingebrochen und mich dort, im privatesten Raum, den ein Mensch haben konnte, habe vögeln lassen. Denn genau das hatte er mit mir gemacht. Er hatte mich gevögelt. Es war ihm nicht darum gegangen, mit mir zu schlafen, wie es Verliebte taten. Es diente einzig und allein dem Zweck, sein eigenes Ego zu befriedigen.
Diese Einsicht kam mit dem Artikel der Lokalzeitung, die den Einbruch als nie dagewesene Abscheulichkeit verdammte. Erst Frau Weigarts darin zitierte Worte öffneten mir die Augen für die Wahrheit:
„Ich glaube, jemand hat es auf mich abgesehen.“
Sie selbst würde wohl nie erfahren, wie recht sie damit hatte. Genauso wenig wie sie oder ich es hätten ahnen können, dass ihr Spruch am Supermarkt Chris derart kränkte, dass er sich bei der Alten um jeden Preis hatte rächen wollen. Ihr den Hund zu nehmen hatte aufgrund Mollis Treue und Spürsinn nicht funktioniert. Darum kam vermutlich der Plan des Einbruchs ins Spiel. Schließlich war ich dumm und willig genug gewesen, ihm zu helfen. Inwieweit er den Sex vorher eingeplant hatte, mochte ich mir nicht vorstellen. Aber selbst wenn ihm der Einfall erst beim Betreten des Schlafzimmers gekommen war, würde es keinen Unterschied machen. Er hatte meine Naivität absolut hinterhältig für seine Zwecke ausgenutzt. Ich war ihm dabei vollkommen egal gewesen. Es ging bloß darum, sich und allen etwas zu beweisen.
Nach dieser Erkenntnis wurde meine Wut durch bittere Traurigkeit ersetzt. Ich war ein kleines, dummes Mädchen, das seine Unschuld an einen Kerl mit geringem Selbstwertgefühl verloren hatte. Einem, der ein krummes Ding nach dem anderen drehte, damit ja niemand merkte, wie unsicher er in Wirklichkeit war. Und ich hatte mich davon blenden lassen, einen auf taff und draufgängerisch gemacht, nur um mich von den eigenen Problemen abzulenken. Dabei hatte ich lieber ein zweites Ich erschaffen, als mich um mein Erstes zu kümmern. Jeder für sich gesehen war schon ziemlich erbärmlich, und zusammen hatten wir das Ganze dann auf die Spitze getrieben.
Aus diesem Grund war es das Beste, wenn wir voneinander Abstand hielten. Er könnte sich ein neues Dummchen suchen und ich hätte Zeit, mir darüber im Klaren zu werden, wer ich eigentlich sein wollte. Und bis ich das wüsste, würde ich Mellis altes Leben wieder aufnehmen, angefangen mit der Schule.