Während es draußen unablässig regnete, wurde die marode Fabrik von Technobeats durchgeschüttelt. Chris hatte eine kleine Bluetoothbox besorgt, die auf dem Sims Staub und rote Bruchsteinchen vibrieren ließ. Ich lehnte mit verschränkten Armen gegen eines der wenigen Fenstergläser, die wir bisher nicht zerstört hatten und sah dem Wasser beim Herunterrinnen zu.
Im Nebenraum tüftelte Chris an irgendetwas herum. Seit einer halben Ewigkeit schon saß er da drin und kam einfach nicht in die Gänge. Dabei ließ er mich weder hinein, noch kommentierte er meine Ideen zum heutigen Abgriff, die ich von der Halle aus laut vortrug. Ich wollte endlich raus, trotz des deprimierenden Wetters. Unruhig fing ich an, auf und ab zu gehen, ohne Ziel, einfach, um mich zu bewegen. Schon ein kleines Erfolgserlebnis würde meine Laune heben, selbst eine lächerliche Packung Kaugummi wäre ausreichend. Ich stieß ein frustriertes Stöhnen aus. Es versackte ungehört zwischen trommelnden Wassertropfen und pulsierender Elektromusik. Auf diese Weise würde ich weder dem Tag noch meinen Gedanken entkommen. Und jede weitere Stunde in Mellis Leben machte es nur noch schlimmer.
In der Schule sprach mich niemand direkt auf das an, was alle wussten. Aber einige ließen es sich nicht nehmen, in meiner unmittelbaren Nähe derart laut über mich zu Tratschen, dass ich gezwungen war, mitzuhören. Dass ich mit Chris zusammen Drogen verkaufen würde, waren dabei noch die netteren Gerüchte.
„Mir wurde erzählt, sie hätte sich von Martens die Krätze geholt und muss jetzt jeden Tag zum Frauendoc, um sich die Muschi eincremen zu lassen.“
„Sie geht jetzt für Martens auf den Strich. Steht immer in einer anderen Straße und wartet darauf, bis jemand kommt.“
„Frag sie doch mal, ob sie dir für einen Zehner auch einen bläst.“
„Bäh, ich will mir doch kein Herpes von der holen.“
Als würde ich all diese Scheußlichkeiten nicht mitbekommen, schritt ich dann immer mit einem selbstgefälligen Lächeln an den Idioten vorbei und ließ sie kopfschüttelnd hinterherschauen. Sie sollten auf keinen Fall denken, dass es mich fertig machte. Diesen Triumph würde ich ihnen nicht geben. Aber nach den Vormittagen des Ignorierens und Vortäuschens pfefferte ich den Rucksack zornig in eine Zimmerecke, warf mich auf das Bett und schrie in mein Kissen, solange, bis mir die Luft ausging, meine Lunge stach und mein Kopf vom Schwindel gepackt wurde. Erst dann war ich für den Rest des Tages gewappnet. Der allerdings nur ein weiterer Spießrutenlauf im Café bereithielt.
Nachdem sich die Grumann und die Alsbach auf subtile Weise geweigert hatten, von mir bedient zu werden, taten es ihnen die übrigen Gäste gleich. Stück für Stück verlor ich meine Stammkundschaft und Theresa kam bei den Bestellungen kaum noch hinterher. Ihre giftigen Kommentare über meinen mäßigen Arbeitseinsatz schluckte ich bitter herunter, während ich stur hinter die Theke stand, fest entschlossen, nicht einzuknicken.
Endlich kam Chris aus dem Zimmer. In seinem Mundwinkel hing eine glimmende Zigarette wie in einem alten Westernfilm. Er sah aus dem gleichen verregneten Fenster wie ich gerade noch.
„Schifft ja immer noch.“
„Können wir jetzt endlich los?“, fragte ich ungeduldig, als er sich ein Bier nahm und es aufploppen ließ.
„Laut Googleanzeige ist der Markt in Ebersfelde von Drei bis Sechs nicht allzu voll. Wenn wir jetzt fahren, hätten wir noch massig Zeit.“
Er blickte halb belustigt, halb verwundert auf ohne eine Antwort zu geben. Geschäftig scrollte ich an meinem Handy den Busfahrplan herunter. Nach dem ersten Bier würde er keinerlei Lust verspüren, irgendwohin gehen zu wollen. Das kannte ich schon und musste es rechtzeitig verhindern.
„Oder wir fahren mit dem Bus nach Mügge in die Mall.“
Wie ein gefangenes Tier lief ich nun von einer Stelle zur anderen, mit dem Handy unter der Nase, dass mir sämtliche Läden und Öffnungszeiten der Umgebung anzeigte. Irgendetwas davon musste ihn doch reizen.
„Liiis“, seufzte er. „Setz dich mal hin und chill.“
Ich konnte nicht. Ich wollte, dass der Regen aufhörte, wollte raus und etwas anstellen. Voller Tatendrang ging ich bis zur Treppe, machte kehrt und kam bis zum Anfang zurück. Alles in mir juckte und kribbelte, meine Hände und Füße schienen keine Ruhe zu finden. Chris hingegen hatte sein Handy herausgeholt und beachtete mich nicht weiter. Genervt kickte ich ein paar leere Dosen über den Boden, die scheppernd gegen die Wand schlugen. Eine davon direkt neben ihm.
„Ich schwörs dir, Lis“, schimpfte er jetzt und mit großen Schritten kam er auf mich zu, um mich bei den Schultern zu packen und zum Fenstersims zu schieben.
„Bleib auf deinem Arsch sitzen“, befahl er schroff.
„Ich will aber was machen-“
„Es schifft und ich hab kein Bock. Raffs halt mal!“
Schnaubend sprang ich wieder auf. Vielleicht sollte ich nach Hause. Dort konnte ich schließlich auch herumsitzen, was auch wesentlich bequemer war als diese Bruchbude.
„Willste jetzt mal sagen, was los ist?“, raunzte Chris neben mir. „Gehst mir die letzten Tage tierisch auf den Sack mit deinem Gehampel.“
„Nichts“, murrte ich und packte meine Jacke.
Wenn er mich in diesem Zustand nicht hier haben wollte, konnte ich auch gleich verschwinden. Aber noch bevor ich meine Tasche aufheben konnte, schob er sie mit einem Bein hinter sich.
„Sag schon. Is es wegen deiner Lesbe? Oder 'n andrer Weiberkram?“
Ich fuhr mir genervt über die Stirn.
„Lass uns einfach gehen“, bettelte ich im letzten Versuch, ihn aus der Fabrik zu bekommen.
Aber er machte keinerlei Anstalten, sich vom Fleck zu rühren. Warum musste er heute auch den Neugierigen spielen? Sonst war ihm mein Leben doch auch egal.
Seine dunklen Augen musterten mich nachdenklich.
„Sag erst.“
Ich wandte den Blick ab. Er würde es nicht verstehen. Schließlich musste er sich längst nicht mehr mit der Schule herumschlagen. Wie frei er doch war. Niemand, der ihm sagte, was er zu tun und lassen hatte, niemanden, bei dem er sich verstellen musste. Er konnte sein, wie und was er wollte.
Als er keine Antwort erhielt, trat er näher an mich heran und legte den Daumen an mein Kinn.
„Ich find's scheiße, -“, sagte er in lächerlich hoher Tonlage, während er meine Unterlippe öffnete, damit ich wie eine Marionette die Bewegungen zu seiner Stimme mimte. „- dass ich nich’s Maul aufkrieg und C mit meiner Kacklaune abfuck.“
Zornig schlug ich seine Hand fort und stampfte geradewegs zum Ausgang. Auf seine dämlichen Scherze konnte ich verzichten. Sollte er mit den Kindereien doch alleine weitermachen, mal sehen, wie es ihm gefallen würde, auf sich selbst gestellt zu sein.
„Mann, Lis, war doch nur 'n Witz“, rief er mir nach.
Aber als er damit nichts erreichte, schickte er ein verärgertes „Was is dein beschissenes Problem?!“ hinterher.
Ich platzte beinahe. Dieser Mistkerl dachte doch wirklich, er könnte mir meine Wut streitig machen. Dabei war es seine Schuld, dass ich überhaupt in dieser Lage steckte! Warum hatte er mich auch mitten auf den Parkplatz küssen müssen? In seiner großkotzigen Selbstgefälligkeit war es ihm vollkommen egal gewesen, dass wir dabei beobachtet wurden. Und ich musste es ausbaden!
„Mein beschissenes Problem ist, dass du die Krätze hast!!!“