Unruhig wälzte ich mich im Bett von rechts nach links. Das Lernen hatte nicht funktioniert, zu viel ging in meinem Kopf vor, bis ich es letztlich aufgab und mich hinlegte. Durch das Auf und Ab der letzten Tage war ich emotional vollkommen ausgelaugt. Mein Körper hingegen wirkte wie kurz vor einem Marathon und verlangte nach Beschäftigung. Egal, wie gut ich ihm zuredete, er kam einfach nicht zur Ruhe. Zusätzlich befeuerte er die Gedankenschleife, die mir meine Unzulänglichkeiten vorhielt. Angefangen bei den kläglichen Versuchen, Chris zu erreichen, über die Verlockung, ein fremdes Handy einzustecken, bis zu der Unachtsamkeit mit der Tasche. Was war nur los mit mir? Es schien, als würde mein Verstand mich unkontrolliert in Schwierigkeiten bringen wollen. Ich brauchte schlaf. Und das dringend. Erneut wechselte ich die Seite. Der helle Mondschein fiel hinter meinem Rücken durch das Fenster und beleuchtete die kleinen Pokale und Medaillen des Turnvereins, die hoch oben Staub ansetzten. Ihre Eroberung lag zu weit in der Vergangenheit als das ich noch stolz darauf hätte sein können. Dabei war das Gefühl, das sie in mir ausgelöst hatten, früher so überwältigend gewesen.
Mein Körper war pure Entschlossenheit. Ich wusste, welche Bereiche ich wie stark anspannen musste, um die perfekte Form zu erreichen und ihn die kontrollierten Bewegungen ausführen zu lassen, die alle sehen wollten. Meine Beine grätschten in der Luft auseinander, kamen anmutig und sicher auf dem Schwebebalken zurück und machten sich bereit für den nächsten Teil der Kür. Die Gesichter der Jury sowie der Zuschauer dahinter blendete ich aus. Monatelang hatte ich hierfür trainiert. Da würde ich mich durch kritische Blicke nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ich bog die Wirbelsäule nach hinten, griff nach dem Balken und schon sausten meine nackten Füße wieder nach oben, bis sie das Vlies unter sich spürten. Eine elegante Drehung, schon stand ich mit dem Rücken am Ende des Turngeräts. Ich atmete tief ein, während die Muskeln meiner Waden und Oberschenkel alle Kraft sammelten. Dann sprang ich ab. Mein Körper formte in der Luft eine Kugel, aber nur für einen flüchtigen Moment, schon stand ich kerzengerade auf der Bodenmatte. Mit rasendem Herzen starrte ich auf den Querschnitt des Balkens, auf dem ich eben noch in höchster Konzentration die Übungen vollführt hatte. Das Klatschen setzte ein. Jetzt konnte ich loslassen, die ganze Anspannung von mir abschütteln und augenblicklich eroberte ein Grinsen mein Gesicht, das breiter nicht sein könnte. Die Jurymitglieder nickten beeindruckt und notierten die Punktzahl auf ihrer Liste. Ich wusste, dass ich es geschafft hatte.
Die Kür der übrigen Teilnehmer nahm ich nur noch am Rande wahr, zu aufgeregt war ich über die Ausrufung der Sieger. Die Trainerin drückte meine Schulter aufmunternd, als Bronze an jemand anderen ging. Meine Fingernägel bohrten sich fest in die Handflächen. Ich wollte diesen Sieg, ich brauchte ihn. Zu hart hatte ich dafür gearbeitet, als das ich ihn mir nehmen lassen würde. Nun ging es um Silber. Auch dieses Mal wurde mein Name nicht genannt. Die Schultern sackten mir ein. Irritiert sah ich zu Papa, der in den Zuschauerreihen saß. Der machte eine Geste, die bedeutete, ich solle mich gedulden. Aber wofür? Es war vorbei. Gold bekam immer nur Katja, das Mädchen, dass viel früher mit dem Turnen angefangen hatte. Was war nur schief gelaufen?
„...Melissa Mahler!“
Ich hob den Kopf. Die Zuschauer applaudierten, alle Augen waren auf mich gerichtet und meine Trainerin schubste mich sacht nach vorn, weil ich nicht recht begriff, wer da eben ausgerufen wurde. Das Band einer goldenen Medaille wurde mir über den Kopf gezogen, und erst ich sie auf meiner Brust spürte, verstand ich, dass ich gewonnen hatte. Die anderen des Vereins umringten mich, klopften mir auf die Schultern, jeder beglückwünschte mich, sogar Katja. Aber meine Augen waren nur auf das glänzende Ding gerichtet, meine Finger umklammerten es, betasteten die hübsche Gravur. Dann schob sich Papa zwischen die Mädchen, schlang die Arme um mich und hob mich in die Höhe.
„Ich wusste, du schaffst es!“
Er war so glücklich, so voller Stolz, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Seine Augen leuchteten vor Freude.
„Guck mal, was ich gewonnen habe“, sagte ich und hielt ihm das Abzeichen hin.
„Das ist jetzt deins, Kleines. Deine Trophäe, die dich immer daran erinnern wird, was du geleistet hast.“
Ich wandte den Blick von den Auszeichnungen. Heute bedeuteten sie nichts mehr und eigentlich hätte ich sie längst wegräumen sollen, weil sie mich schmerzlich an eine Vergangenheit erinnerten, der ich aus dem Weg gehen wollte. Die Zukunft war das Einzige, der ich mich widmen sollte. Auch wenn sie keine Trophäen für mich bereithielt. Aber was war mit der Gegenwart? Was konnte diese mir bieten? Ich seufzte in mein Kissen, als mir klar wurde, dass allein Chris sie interessant gemacht hatte. Und dem schien alles egal zu sein. Selbst die gestohlenen Sachen.
Ich warf die Decke beiseite und stand auf. Wie von fremder Hand geführt ging ich zum Kleiderschrank, öffnete ihn leise und steckte den Arm hinein. Ich hatte Trophäen, genau hier. Die Tasche war schnell gefunden, der Inhalt in einer Bewegung herausgeschüttelt. Einen Gegenstand nach dem anderen legte ich sorgsam aneinandergereiht auf den Teppich, bis ein Mosaik aus Geldbeuteln, Handys und Schmuck entstand. Es war wie ein wunderschönes Gemälde, dass nur ich allein zu Gesicht bekommen würde. Behutsam fuhr ich über glänzende Displays, betasteten das Material und die Stickereien der Börsen und strich über filigrane Silberverschlüsse. Jedes Teil für sich bewahrte die Erinnerung an seinen Abgriff. Die Nervosität davor, die gespielte Selbstsicherheit währenddessen, der Stolz und die Erleichterung danach. Sie alle verschmolzen nun wie einzelne Farben zu einem Bild. Eine Leinwand des Hochgefühls, das mir heiß in den Unterleib schoss. Ich knöpfte meinen Pyjama auf, während ich daran dachte, wie Chris schlanke Finger jedes dieser Gegenstände berührt hatte. In meinem Kopf wanderten sie anstatt meiner über die Rundungen meines Busens bis unter den Hosenbund. Wie hypnotisiert betrachtete ich die Beute, der Atem ging mit der Bewegung zwischen meinen Beinen immer schneller. Das gehörte alles mir. Ohne mich hätte Chris die Sachen niemals stehlen können. Es war meine Leistung, meine Auszeichnungen. Die alles überflutende Welle ließ nicht lange auf sich warten. Sie umspülte mich, riss für einen Moment die Sorgen und Grübeleien davon und verebbte in einem leichten Zittern. Was blieb, war die Erleichterung und meine feuchten Finger, die ich wieder hervorholte, um die Sachen zurück in die Tasche zu packen.
Dann, als ich den Kleiderschrank wieder leise schloss und ins Bett kroch, überkamen mich auch schon die wohlbekannten Schuldgefühle. Sollte es das jetzt gewesen sein? Müsste ich wieder Melli werden, das freundliche Mädchen mit dem berechnenden Leben, dem nicht mehr vom Tag blieb als kleine Erinnerungsstücke, an denen es sich aufheizen konnte? Niedergeschlagen rollte ich mich unter der Bettdecke ein. Eine Träne löste sich aus meinen zusammengekniffenen Augen. Ich wusste genau, was sie bedeutete, denn häufig war sie der Vorbote des tobenden Monsters, dass mich vor Jahren das erste Mal heimgesucht hatte. Das aushöhlende Gefühl des Vermissens. Ich wischte sie weg. Nein, heute wäre es anders, sagte ich mir, heute konnte ich etwas dagegen unternehmen. Es bedurfte nur ein wenig Mut.