„Melissa?“
Lena-Marie fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht.
„Was?“, fragte ich irritiert.
Ich musste sie offenbar vollkommen ausgeblendet haben. Die ganzen Tage über träumte ich schon vor mich hin, sah mich wieder und wieder über Absperrungen turnen und Scheiben einschlagen, fühlte Chris Hand an meiner Hüfte, seinen Atem an meinem Ohr.
Ich war alleine durch die dunkle Etage gelaufen, hatte mich durch die Gitter gezwängt und mich kurz vor meinem Haus gefragt, warum er dortgeblieben war. In der darauffolgenden Nacht hatte ich so gut geschlafen wie lange nicht. Keine Aufregung, keine Listen hielten mich davon ab, schnell in einen tiefen und friedlichen Schlaf zu fallen. Und erst am Morgen darauf war mir aufgefallen, dass er nicht nach meiner Nummer gefragt hatte. Das nächste Mal hatte er gesagt, aber ohne eine Möglichkeit, sich zu melden, müsste ich solange warten, bis man sich zufällig wieder über den Weg lief. Nach den Schichten im Café war ich besonders langsam um die Kirchenmauer gegangen, in der illusorischen Hoffnung, ihn dort sitzen oder die Straße entlangkommen zu sehen. Am dritten Tag dann hatte ich es aufgegeben.
Es war nur eine Floskel gewesen. Er hatte kein wirkliches Interesse an mir. Warum sollte er auch, schließlich hatte ich oft genug gezögert. Ich war eben nur die langweilige Melissa im langweiligen Wittelshain. Zumindest konnte ich mir mit der Erinnerung an das kleine Abenteuer die Zeit versüßen.
„Ob du dieses Wochenende Zeit hast?“, wiederholte Lena-Marie.
Ich sollte aufhören, etwas anderes vom Leben zu erwarten als den Alltag und mich ihm ergeben.
„Klar“, antwortete ich und hoffte, sie würde meine Resignation nicht heraushören.
„Wirklich?“ Sie war plötzlich ganz aufgeregt. Nach dieser langen Zeit hatte sie nicht mehr damit gerechnet, mich außerhalb der Schule zu Gesicht zu bekommen.
„Wir könnten einen richtigen Mädelsabend machen“, sagte sie begeistert. „Mit Schokoladenkuchen und einem Film. Vielleicht PS. Ich liebe dich?“
„Das hört sich ja-“ Absolut furchtbar an, schrie mein Kopf. „-wirklich toll an. Das sollten wir machen.“
Ich zwang mich zu einem Lächeln. Wahrscheinlich schlief die kleine Lena-Marie noch immer mit Unmengen an Kuscheltieren in ihrem Bett, wie sie es mit Sieben getan hatte. Das einzig Neue an ihr war die Neigung zu widerlichen Schnulzen.
Die Schulglocke läutete und wir machten uns auf den Weg zu einer weiteren Doppelstunde uninteressanter Monologe. Ich versuchte, es positiv zu sehen. Ein paar Stunden bei Lena-Marie würden mich sicher von meinen unsinnigen Träumereien ablenken. Das Graffiti in der Eingangshalle, dass bereits zum größten Teil mit weißer Farbe übermalt wurde, half mir dabei nicht besonders.
„Ist das Ding nicht schrecklich?“, fragte Lena-Marie mit dem Blick auf die durchscheinenden Reste. „Wie kann man das nur witzig finden, so etwas hier hinzuschmieren?“
„Ja, total kindisch“, erwiderte ich matt.
„Aufpassen, Glasauge“, rief es hinter uns und schon rauschten Mariell und Steffi vorbei.
Ich hatte Anna unter den Schülern nicht erkannt, so gebückt und unscheinbar wie sich durch die Gänge schlich. Aber Mariell war sie nicht entgangen. Mit einer gezielten Bewegung beförderte sie Annas Bücher aus deren Händen und eilte kichernd weiter.
„Die Brille ist wohl nicht dick genug“, rief Steffi lachend und beide verschwanden auf den Treppen.
Ich half Anna beim Auflesen der Unterlagen, während Lena-Marie unsicher daneben stehen blieb. Das Risiko, als nächstes Opfer auserkoren zu werden, nur weil sie geholfen hätte, war ihr zu groß.
„Anna“, seufzte ich. „Warum sagst du nicht endlich was?“
Sie schob sich die Brille über den großen Nasenrücken.
„Weißt du, Melissa, auch Leute wie Mariell müssen irgendwann erwachsen werden.“
„Und darauf möchtest du wirklich warten?“
„Ach, so schlimm ist es nicht“, gab sie leise zurück. „Ich habe mich irgendwie daran gewöhnt.“
Gewöhnt hatte ich mich auch an einiges. Nur war ich mir nicht sicher, ob ich es wie Anna auf ewig hinnehmen wollte. Ich warf noch einen Blick auf das verschwindende Graffiti und wandte mich kopfschüttelnd ab.