„Du heißt Christian, nicht wahr?“
„Niemand nennt mich Christian“, antwortete er, steckte sich eine Zigarette an und blies den Rauch durch Mund und Nase. „Ich bin C. Wie Jay-Z, nur ohne's Jay.“
Seinen Namen auf nur einen Buchstaben zu reduzieren, kam mir lächerlich vor. Besonders da das Wort Christian einen verwegenen Klang hatte.
„Dann doch lieber Chris“, beschloss ich.
Er zuckte mit den Schultern.
„Mach was du willst.“
Eine kurze Pause folgte. Er fragte nicht nach meinen Namen, sondern lief mit großen Schritten voran, sodass ich Mühe hatte mitzuhalten.
„Ich bin Melissa.“
Er sah mich abschätzend an und grinste, als hätte ich einen Scherz gemacht.
„Nee.“
„Ähm, doch“, sagte ich perplex.
„Ich kannte mal 'ne Melissa, die war fett wie'n Wal. Aber du siehst gar nich so fett aus.“
Ich sah an mir herunter, an den gestreiften Pullover, der sich minimal über meinen Bauch wölbte. Dick habe ich mich noch nie gefühlt, aber spindeldürr wie manch andere Mädchen meiner Schule, bei denen die Schultern knochig hervortraten und die Beine Streichhölzern glichen, war ich auch nicht.
Er schüttelte lachend den Kopf.
„Jetzt mach nicht so'n Gesicht. Da sagt man was und schon macht ihr Weiber 'n Hungerstreik. Ist doch bescheuert.“
Gekonnt schnippte er den Filter der Zigarette in einen Busch und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ich fragte mich, ob er mich attraktiv fand. Oder zumindest nicht hässlich. Aber nichts an seinem Verhalten deutete irgendeine Richtung an. Deshalb lief ich schweigend neben ihm her und wartete auf ein versöhnliches Wort oder einen Wink.
Wir waren bereits ein gutes Stück abseits von Wittelshain. Hinter uns erhoben sich die letzten Einfamilienhäuser zwischen zaghaft blühenden Gärten, davor der schmale Bürgersteig, der unvermittelt abbrach und uns auf die Landstraße zwang. Dieser Weg führte kilometerweit durch den Forst, bis nach den letzten Baumreihen und Sträuchern die Häuser von Ebersfelde auftauchten. Hier gab es nichts Interessantes zu entdecken. Trotzdem steuerte Chris zielsicher in den Wald, indem er sich einen Weg durch die Gräser bahnte. Es wäre weit weniger anstrengend gewesen, einen der Trampelpfade zu nehmen, aber meine Neugier ließ mich ihm wortlos folgen.
Nach einigen Minuten zeigte er in die Bäume.
„Da ist es.“
Es war die alte Fabrik, deren hässliche Backsteinfassade durch die kahlen Baumkronen blitzte. Der zweistöckige Klotz wurde Ende des 1900 Jahrhunderts erbaut, zunächst als Zigarrenmanufaktur. Während des Zweiten Weltkriegs nutzt man ihn allerdings als Munitionsfabrik und da nach der Niederlage der Deutschen keine Waffen mehr benötigt wurden, wechselte es seine Besitzer ebenso schnell wie seinen Zweck. Zuletzt diente es einem Chemiekonzern zur Futtermittelherstellung. Doch auch der hatte eines Tages begriffen, dass die Anlage mehr Geld kostete, als sie abwarf. Deshalb schloss man das Werk vor rund fünfzehn Jahren endgültig, solange bis der Landkreis entschied, was damit werden sollte. Denn wegen seines Alters wurde es unter Denkschutzmal gestellt, also durften sie das Ding nicht einfach abreißen, so baufällig und überwachsen es auch war. Lediglich einen Bauzaun hatten sie irgendwann aufstellen lassen, damit die Jugendlichen nicht eindringen konnten, um es durch ihre Partys noch mehr zu zerstören. Iris Grumann erzählte jedem die Geschichte darüber, wie Bernd Kriewitz damals durch den Boden des oberen Stockwerks gekracht und sich das Bein und Handgelenk gebrochen hatte. Glücklicherweise nicht mehr, aber die Aufregung war groß, als die Anderen seinen Körper bis zum Dorfrand schleppten, damit der Krankenwagen sie aufsammeln konnte. Noch heute präsentierte er die Narben mit warnenden Worten und ein wenig Stolz.
Uns Kindern wurde früher immer verboten, dort zu spielen, aber ich erinnerte mich daran, dass wir oft genug versucht hatten, hineinzukommen, im Glauben, ein Abenteuerspielplatz würde dort drinnen auf uns warten. In meinem Gedächtnis war es allerdings nicht halb so heruntergekommen wie heute.
Die hohen Fenster der unteren Etage waren zur Hälfte mit Brettern vernagelt, viele der quadratischen Glasscheiben darüber zersplittert. Die Fassade verschwand an einigen Stellen hinter dicken Efeuranken und ausgeblichenen Graffiti.
„Kennste das?“, fragte Chris, während er das Gebäude begeistert betrachtete.
„Klar, jeder hier kennt das Ding“, erwiderte ich.
„Und weißte, wie man da reinkommt?“
Ich schüttelte den Kopf.
Wir drehten eine Runde um die Absperrung. Auf der Vorderseite der Fabrik lag die breit gepflasterte Einfahrt, die weit hinten auf die Straße führte. Unter Grasbüscheln und Moosen erkannte man sie kaum noch. Hier war schon lange niemand mehr entlanggefahren. Ich fragte mich, wie man nur auf die blöde Idee kommen konnte, ein Gebäude mitten im Wald zu bauen.
Chis schien jede kleine Stelle im Zaun mit den Augen zu prüfen, aber zu seiner Enttäuschung griffen alle Gitter fast lückenlos ineinander. Bald waren wir wieder an unserem Ausgangspunkt angekommen. Frustriert rüttelte er am Zaun, der zwar wackelte und alarmierende Geräusche von aneinanderschlagenden Metall von sich gab, aber nicht umzuwerfen war. Das hätte man sich denken können, denn die Stützstreben auf der anderen Seite verhinderten ein umkippen. Genervt schüttelte ich den Kopf. Wenn es so einfach gewesen wäre, hätten die Kids im Dorf das Ding sicher bereits gestürmt.
„Bessere Idee?“, blaffte er mich an.
Nachdenklich ging ich an der Vergitterung entlang, auf der Suche nach einer Schwachstelle. Vielleicht eine Vertiefung, um darunter zu kriechen oder etwas Großes, auf das man steigen konnte. Es gab ein paar Birken in der Nähe, aber deren Stämme waren zu hoch und Äste zu dünn.
Wieder erfüllte das Klirren den Wald. Chris hatte versucht, auf den Zaun zu springen, fand aber an den schmalen Metallstreben keinen Halt und rutsche herunter. Ich verdrehte die Augen. So funktionierte das nicht.
„Schau mal!“, rief ich einige Meter weiter. „Da kommen wir rüber.“
Ich stand vor einer Stieleiche, deren dicke Äste über den Zaun ragten. Chris kam an meine Seite und sah zum ersten Ausläufer des Baums hoch, unter dem ich stand.
Er schüttelte den Kopf.
„Also ich komm da nich rauf.“
„Aber ich“, sagte ich mit einem Grinsen. „Du musst mich nur ein Stück heben.“
Er verschränkte die Finger ineinander, damit ich darauf steigen konnte. Meine Hände zitterten ein wenig, als ich sie auf seine Schultern legte. Ich musste nach oben sehen, damit ich mich auf mein Ziel konzentrierte.
„Scheiße, bist du schwer“, schnaubte er. „Vielleicht doch mal n Hungerstreik machen?“
Als er mein bestürztes Gesicht sah, grinste er.
„War'n Witz.“
Mit einem Mal hievte er mich in die Höhe. Ich nutzte den Aufschwung und griff nach dem Ast, der jetzt auf Augenhöhe lag. Mein Körper führte die Bewegungen beinahe automatisch aus, so oft hatte ich sie in der Vergangenheit geübt. Die Beine schwangen nach vorne, mein Bauch spannte an und stemmte sie über den Ast. Eine kurze Drehung und ich konnte mich daraufsetzen.
Ich legte den Kopf in den Nacken und atmete schwer aus, froh darüber, dass der Ast hielt. Von hier aus konnte man fast durch die Fenster in das zweite Stockwerk sehen. Ein leichter Wind erfasste mein Haar. Wie ruhig es plötzlich geworden war. Ich hatte ganz vergessen, wie gut es sich weit oben anfühlte.
„Mel, komm sofort da runter!“, rief jemand in einem Tonfall, der verärgert und zugleich besorgt klang.
Er stand unter dem Baum und stemmte die Hände in den grauen Sakko, was ihm bei seiner schmalen Statur immer etwas mehr Autorität verlieh. Sein ordentlich zurückgekämmtes Haar verriet mir, dass er bis eben noch im Büro gewesen war.
„Aber ich komm fast bis ganz nach oben, Papa“, rief ich voller Euphorie und schon packten meine kleinen Händen den nächsten Ast.
„Ich sag es nicht nochmal: Komm da runter!“
Papa wirkte von hier oben so klein. Aber sein erschrockenes Gesicht konnte ich genau erkennen. Ich ließ den Ast los und kletterte wieder abwärts. Beim letzten Stück hob er mich herunter, stellte mich auf den Boden und ging in die Hocke, um mir ernst in die Augen zu sehen.
„Warum machst du sowas immer wieder?! Das ist gefährlich, du hättest dir den Hals brechen können.“
Ich verstand nicht, weshalb er sich so aufregte. Es war doch nichts passiert.
„Is ja irre“, hörte ich Chris rufen.
Noch immer saß ich auf der Stieleiche.
„Woher kannste das?“
Ich schob das Bild meines Vaters beiseite und kam auf die Beine.
„Ich hab mal Geräteturnen gemacht“, erklärte ich, während ich auf den nächsthöheren Ast kletterte, der mich sicher über die Absperrung bringen würde.
Langsam balancierte ich auf ihm vorwärts, bis ich spürte, wie er sich leicht bog. Weiter sollte ich nicht gehen. Das Gras darunter sah weich genug aus, dass es meinen Absprung abfedern konnte. Ich umklammerte den Ast mit Händen und Kniekehlen und ließ mich kontrolliert rückwärts fallen. Dann schob ich die Beine unten durch und ließ sie vorsichtig sinken, damit er nicht allzu heftig ins Schwanken geriet. Jetzt konnte ich loslassen. Elegant und sicher kam ich unten an.
Ich klopfte mir zufrieden die Reste von den Händen. Nur eine Rückwärtsrolle wäre pure Angeberei gewesen, aber Chris war jetzt schon beeindruckt.
„Und weiter?“, fragte er, und sofort verebbte das Hochgefühl.
Darüber hatte ich nicht nachgedacht. Ich war zwar auf der anderen Seite, aber wie sollte ich ihn hereinlassen? Oder mich wieder raus?
Ich schluckte und trat an die Vergitterung, die uns trennte. Die einzelnen Zaunabschnitte waren mit kupferfarbenen Verbindungsstücken angeschraubt, die sie zusammenhielten wie Klammern. Vielleicht hatte die Zeit sie rosten lassen und man könnte sie mit etwas Gewalt lösen.
„Wir müssen die Dinger hier wegbekommen“, sagte ich und begann daran zu zerren.
Chris steckte die Hand durch das Gitter, um zu helfen. Dabei berührten wir einander. Ein Schauer überkam mich wie bei einem sanften Stromschlag. Er war ganz warm. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an seine schmalen Finger, die vom Winter leicht rau waren, und daran, wie geschickt sie die Trauben abgepflückt hatten. Er hingegen zog und schob mit vollem Einsatz, sonst hätte er meinen verträumten Blick sicher bemerkt.
„Was is das?“ Er zeigte hinter mich, nachdem er einsah, dass wir die Klammer nicht bewegen konnten.
Erst verstand ich nicht, was er meinte, doch dann sah ich das glänzende Teil auch, das im matten Sonnenstrahl hinter Dornen und Ranken hervor blitzte. In wenigen Schritten war ich dort, zog es mit übergestülpten Ärmel aus dem Gebüsch und hielt die Stange triumphierend in die Höhe. Sie hatte ein gutes Gewicht. Ich reichte sie ihm durch das Gitter und er schwang das Ding probehalber, um sich seiner Schwere bewusst zu werden, holte aus und ließ es auf die Klammer krachen. Mit einem ohrenbetäubenden Scheppern sprang sie aus der Verankerung.
Automatisch warf ich den Kopf in alle Richtungen, aus Angst, jemand wäre durch den Lärm aufmerksam geworden. Natürlich war weit und breit niemand zu sehen. Nur ein Vogelpaar flog verschreckt aus der Krone eines Baums. Chris schob derweil die Gitter auseinander und zwängte sich durch den Spalt.