Mahlers Café war noch gut besucht, als ich meine Einkäufe durch die beieinanderstehenden Bistrotische am Gehweg bugsierte, um die Glastür aufzustoßen. Mit viel Liebe und Hingabe hatte meine Mutter vor etlichen Jahren das Untergeschoss des zweistöckigen Hauses renoviert. Damals gehörte die Verkaufsfläche einem Videothekenverleiher, der nur wenig für die Instandsetzung des Ladens getan hatte, und der ihn - nachdem niemand mehr Videos oder DVDs haben wollte – für kleines Geld verramschte.
Mein Vater hatte immer lachend erklärt, dass selbst der günstigste Preis noch zu viel für diese Bruchbude gewesen wäre, denn nach dem Kauf und dem Verschwinden des ehemaligen Inhabers wurde meiner Mutter das Ausmaß des fürchterlichen Zustands erst bewusst. Es hatte einen Wasserschaden mit Schimmelbefall gegeben, die Wände und Böden mussten erneuert werden, die Außenfassade ausgebessert und die Rahmen der Glasfrontfenster ausgetauscht. Zu den Ausbesserungen kam noch die Raumtrennung von Café und Backstube hinzu, die breite Verkaufstheke und all die neuen Strom- und Wasseranschlüsse.
Doch nach dem Abschluss eines unverschämt hohen Kreditbetrags, der bis heute abbezahlt wird, und der unermüdlichen Arbeit meiner Mutter, erstrahlte der Laden in einem neuen unverwechselbaren Charme, den er heute, zehn Jahre später noch nicht verloren hatte. Der helle Holzboden und die cremefarbenen Wände zusammen mit dem dunklen Mobiliar aus bequemen Stühlen und Sesseln verliehen ihm etwas modernes, während die kleinen Blumendekors und der Apothekerschrank, dessen Lack allmählich abblätterte, mit den alten verschnörkelten Messingkannen darauf die Vorliebe meiner Mutter für romantische Einrichtungen wiedergaben. Zwischen Zucker darf Verspieltheit nicht fehlen, sagte sie immer, und das schienen ihre Kunden nicht anders zu sehen, denn neben ihren Kuchen wurde sie mehr als einmal für die bezaubernde Atmosphäre des Cafés gelobt.
Im Innenraum umfing mich sofort der vertraute Duft von süßem Gebäck und frisch gebrühtem Kaffee. Meine Mutter kam mir mit offenen Armen entgegen, nahm mir die Tüten ab und küsste mich auf die Stirn. Obwohl ich beinahe schon so groß war wie sie, ließ sie es sich nicht nehmen, allen zu zeigen, dass ich immer ihre süße, kleine Tochter bleiben würde. Und bei den Blicken der anderen lächelte ich immer etwas verlegen, bevor ich mir über die Stirn wischte.
„War alles in Ordnung, Melli-Maus?“, fragte sie, als ich ihr in die Backstube in den hinteren Teil folgte. „Du warst lange weg.“
„Ich wurde nur aufgehalten“, antwortete ich knapp und schnappte mir einen der Baisers, der gerade aus dem Ofen kam und mir lauwarm auf der Zunge zerging. Der halbe Tag lag noch vor mir und ich hatte bisher nur ein Butterbrot essen können. Und durch den Wirbel im Supermarkt hatte ich vergessen, mir dort eine Kleinigkeit für unterwegs zu besorgen. Sonst dachte ich immer daran...
„Hat dich Frau Weigart wieder mit einer ihrer Molli-Geschichten verköstigt?“, fragte meine Mutter und lachte mit ihrer glockenhellen Stimme, während sie den Einkauf in die Regale sortierte.
Dieses Lachen mochte ich am meisten an ihr. Es erhellte sofort jeden Raum, so ehrlich und glücklich klang es. Als ich jünger war hatte ich Unmögliches angestellt, nur um sie zum Lachen zu bringen. Und als Kind empfindet man noch nicht so etwas wie Neid. Dieses Gefühl breitete sich erst viel später in mir aus und kratze ein wenig am Selbstbewusstsein meines vierzehnjährigen Ichs.
„Mama, ich muss dich was fragen“, begann ich, während ich mir meine Schürze umband.
Viel Zeit für eine Unterhaltung würde ich die nächsten Stunden nicht haben, also preschte ich vor.
„Wenn jemand lügt, um jemand anderen zu schützen, meinst du dann, das ist in Ordnung?“
Sie stapelte die Baisers auf ein Tablett und spitzte die Lippen, wie sie es immer tat, wenn sie dachte, ihre Antwort würde auf eine Goldwaage gelegt.
„Das kommt darauf an, vor was man den anderen schützen möchte“, sagte sie schließlich.
„Vielleicht vor den Konsequenzen einer Tat?“
Sie lächelte und zwinkerte mir aufmunternd zu, was bedeutete, dass ich nun getrost mit der Sprache herausrücken konnte.
„Ich habe jemanden geholfen, der beim Stehlen erwischt wurde“, erklärte ich. „Und mit geholfen meine ich, dass ich behauptet habe, er sei mein Cousin... der bei uns zu Besuch ist...“
Sie hob die Augenbrauen überrascht. Kurz dachte ich, sie würde mich über meinen Fehler aufklären oder enttäuscht den Kopf schütteln und mir den Rest des Tages ausweichen. Aber sie lachte nur.
„Und das hat dir Gregor geglaubt?“
„Ja, nein, ich weiß nicht genau. Es kann sein, dass er dich da mal anspricht.“
Sie strich mir beruhigend über die Wange.
„Jeder verdient eine zweite Chance“, erklärte sie und machte sich mit den Baisers auf zur Verkaufstheke.
Erleichtert band ich mir das Haar hoch und rüstete mich mit meinem kleinen Notizblock und einem Tablett aus. Sie hatte Recht, für jeden sollte das Leben mehr als nur eine Chance bereithalten. Aber nach dem Auftritt des Jungen machte ich mir nicht vor, dass er diese auch nutzen wollte. Seine ganze Art schien allen Anstand, alles was zwischen Recht und Unrecht unterschied, kategorisch abzulehnen. Er war einer, der provozierte, der nahm, der sich nicht um Gepflogenheiten scherte. Mir kam dieser lächerliche englische Ausdruck in den Sinn, der wie eine Brandmarkung für solche Jungen galt: Bad Guy.
Eine Gänsehaut breitete sich in mir aus. Ich klammerte mich fester an das Tablett. Hatte ich wirklich gewollt, dass er eine zweite Chance bekam? Während ich zu den Tischen im vorderen Teil ging, sah ich mich im Inneren wieder an der Ladenkasse stehen. Wie ich ihm hinterher sah, jede seiner Bewegungen studierte und dabei kein Wort verlor. Ich musste mir eingestehen, dass ich wollte, dass er damit durchkam. Wie ein Fan war ich im Hintergrund gestanden und hatte mitgefiebert.
„Melissa? Hast du gehört?“
Theresa stand vor mir, das Tablett elegant in die Hüfte gepresst und wedelte mit ihren spitzmanikürten Fingernägeln in der Luft.
„Wie bitte?“
„Ob du meine Donnerstagsschicht übernehmen kannst?“, fragte sie, sichtlich genervt davon, sich wiederholen zu müssen. „Ich muss noch eine Hausarbeit vorbereiten. Von Lilli aus ist es kein Problem.“
Natürlich hatte meine Mutter nicht Nein gesagt. Schon bei der Einstellung von Theresa war klar gewesen, dass ihre Zeiten im Café an ihr Studium angepasst werden mussten. Da es in dieser Gegend schier unmöglich schien, eine zuverlässige Vollzeitkraft zu finden, meine Mutter aber dennoch meinte, wir bräuchten Unterstützung, hatte sie sich auf diesen Deal eingelassen. Und trotz Theresas unverschämt häufiger Schichtabtretung an mich und ihrer übrigen Fehlzeiten, wenn sie wieder einmal eine Krankheit vorschob, beschäftigte sie sie weiter.
„Klar, kein Problem“, entgegnete ich.
Gedanklich ging ich den Tagesplan für Donnerstag durch. Neben der Schule und dem Einkauf musste ich für die Freitagsnachhilfe noch Unterlagen vorbereiten, aber das konnte ich auch während der Schulpausen erledigen. Alles Weitere ließ sich problemlos auf Freitag verschieben.
Mir sollte es Recht sein. Je seltener Theresa kam, desto eher würde meine Mutter einsehen, dass wir das auch alleine hinbekamen. Wir konnten uns aufeinander verlassen, waren organisiert und verstanden uns auch ohne Worte. Eine weitere Person brachte da nur Unordnung rein.