Ich war nicht ganz bei der Sache. An Sonntagen blieben uns nur die Tankstellen, also waren wir zu einer der moderneren im Nebenort gefahren, die eine wesentlich größere Auswahl hatte als die Tota. Eigentlich war es lächerlich, für den Abgriff einiger Snacks und Getränke durch die Gegend zu pendeln, aber ich glaube, Chris wollte sich die Umgebung genauer ansehen, womöglich war ihm langweilig und alleine herumfahren wolle er wohl auch nicht. Ich hingegen brauchte die kleine Exkursion um auf andere Gedanken zu kommen. Doch das Ausmachen der Kameras und das Ablenkungsmanöver beim Ladenpersonal verdrängten nicht die Bilder von meiner Mutter mit Gregor, und schon gar nicht die von Lena-Marie. Es schien einfach alles auf dem Kopf zu stehen.
Selbst später in der Fabrik, als Chris einen Energydrink leerte und dabei irgendeine Geschichte über seinen Freundeskreis in Berlin zum besten gab, bei dem er mehrfach vor lauter Lachen über die eigenen Worte stolperte, lehnte ich stumm gegen die Wand und jagte von einem Gedanken zum nächsten.
Wie hatte ich nicht merken können, was mit Lena-Marie los war? Nicht einmal sprach sie über irgendwelche Jungen, nie hatte sich mit einem getroffen. Nur bei mir war sie immer hartnäckig geblieben. Aber hätte das schon gereicht, um etwas zu ahnen? Nein, beschloss ich, das hätte es nicht. Ich kannte sie schließlich kaum mehr. Das Einzige, dass uns verband, war der Schatten einer ehemaligen Kindheitsfreundschaft. Und das sollte so bleiben.
Ich stellte meine Cola ab, während Chris darüber faselte, wie er und ein Sanny bei zwielichtigen Tschechen gelandet waren, den Grund dafür hatte ich nicht mitbekommen. Entschlossen lehnte ich mich an ihn und drückte meine Lippen auf seine. Er wirkte kurz überrascht, aber schnell war das Ende der Geschichte unwichtig und seine Arme umschlangen meine Taille. Ich musste das alles vergessen, brauchte eine Verschnaufpause von meinem anderen Leben, von Melli.
Die Finger krallten sich in sein Haar, während ich das Kaugummiaroma an ihm schmeckte. Es war deutlich süßer als Kirschschorle. Wieder drängte sich das Bild im Garten vor meine geschlossenen Lider. Automatisch verschloss sich mein Mund. Chris allerdings war Feuer und Flamme, küsste meine Wange, betastete meinen Körper. Ich drehte den Kopf beiseite. Das kleine Lenchen auf meinen Lippen. Es verursachte mir Übelkeit. Jetzt hing er mir am Hals und schien nicht zu begreifen, dass ich nicht mehr wollte. Wie verwirrt sie ausgesehen hatte. Als seine Finger meine Taille hochwanderten drückte ich ihn von mir weg. Er lächelte herausfordernd, war offenbar der Meinung, es sei ein Spiel und zog mich wieder an sich.
Am liebsten hätte ich mich in eine dunkle Ecke verkrochen, alleine, damit mich niemand sehen konnte. Gleichzeitig wollte ich nicht hinnehmen, dass Lena-Marie mir die Sache mit Chris kaputt machte. Deshalb ließ ich widerwillig zu, dass sich seine Hände um meine Hüfte schmiegten und nach hinten bis zum Po glitten.
Plötzlich hielt er inne. Mein verkrampfter Körper hatte ihm womöglich verraten, das etwas nicht stimmte. Deutlich sanfter nahm er mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und suchte meinen Blick.
„Was'n los, Lizzy?“, fragte er derart einfühlsam, dass ich glaubte, ich müsste losheulen.
Allerdings würde ihn das nur mehr irritieren. Und er hatte schließlich nichts falsch gemacht.
„Eine Freundin von mir... also... irgendwie... ich weiß auch nicht...“
Er lächelte spöttisch und bedeutete mir, kein Wort zu verstehen. Ich fixierte ein Graffiti hinter ihm und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht schoss.
„Die hat mich einfach geküsst“, platzte es aus mir heraus und gleichzeitig erschrak ich, denn der Satz hallte unangemessen laut durch die Fabrik.
Chris prustete los.
„Na und? Is sie halt 'ne Lesbe.“
Ich starrte ihn entgeistert an. Störte ihn denn gar nicht, dass mich jemand anderes geküsst hatte? Obendrein noch ein Mädchen.
„Jetzt guck nich so“, sagte er amüsiert. „Is ja nich so als hätt sie dir den Kopf zwischen die Beine gesteckt.“
„Ja aber... was mache ich denn jetzt?“
Es war eine dumme Frage, doch ich merkte, wie die Hilflosigkeit erneut in mir hochkam, wenn ich mir vorstellte, mich am Montag wieder neben sie hinsetzen zu müssen. Ich würde das nicht durchstehen können.
„Sag einfach, dass du auf Kerle stehst.“
Unschlüssig blickte ich zu Boden. Sie war immer todtraurig gewesen, wenn ich eine Verabredung hatte platzen lassen. Wie würde sie denn reagieren, wenn ich ihr gnadenlos das Herz herausriss? Sie war doch so sensibel. Schon damals war sie immer die Erste gewesen, die einknickte, als wir bei den einen oder anderen Dummheiten erwischt wurden.
„Und wenn sie weint?“, murmelte ich.
Er schien kurz darüber nachzudenken.
„Dann musste dir wohl in Zukunft 'n Dildo umschnallen.“
Ich stieß ihn grob zurück, während er laut lachte.
„Mann, das ist nicht witzig! Sie ist eine Freundin.“
„Klar is es witzig. Warum müsst ihr Weiber auch alles so kompliziert machen? Sie is 'ne Lesbe, du nich, basta. Is doch nich dein Problem, wenn die deshalb heult.“
Ich setzte mich schwer seufzend auf den Fenstersims. Es war einfach, etwas zu raten, wenn man nicht selbst in der Klemme steckte. Mit einem verkniffenen Grinsen kam Chris wieder auf mich zu und legte mir die Hand unters Kinn.
„Oh, arme Lizzy“, säuselte er gespielt mitfühlend. „War's so schlimm? Was hat die kleine Lesbe denn gemacht?“
Er beugte sich vor und hauchte mir einen Kuss auf, klein und unscheinbar.
„Vielleicht nur das?“
Sein Mund bewegte sich zum Hals. Die Hände lagen wieder auf meiner Hüfte, schoben mich an den Rand des Sims vor und die Knie auseinander, damit er mir zwischen ihnen näher kam. Ich spürte den rauen Jeansstoff an meine nackten Schenkel reiben, fragte mich flüchtig, ob der Saum des Kleids genug Falten warf, damit er den Slip bedeckte. Gleich darauf schaltete sich mein Kopf ab. Dieses Mal konnte ich mich besser fallen lassen, seine Berührungen soweit genießen, bis sie die wohlbekannte Hitze in mir entfachten.
„Oder das?“
Mein Kopf sank nach hinten, als er die dünnen Träger von meinen Schultern streifte und seine Lippen auf die Haut über dem BH legte, den er wenige Zentimeter herunterschob. Dann zog er meinen Kopf wieder zu sich.
„Oder das volle Programm?“, flüsterte er.
Er öffnete meinen Mund, spielte mit der Zunge an meiner. Ich bestand nur noch aus brodelnder Lava, die er immer weiter anspornte. Plötzlich packte er meine Hand und drückte sie gegen seine Hose, genau an die Stelle, an der sich bereits einiges regte.
Ich zuckte zurück.
„Das hat sie garantiert nicht gemacht!“
Grinsend rückte er von mir ab.
„Siehste, dafür brauchste 'n Kerl“, sagte er lässig. „Dir müssen noch 'n paar coole Sachen gezeigt werden.“
Ich war mir nicht ganz sicher, welche Dinge genau er meinte, ahnte nur, dass die schwindelerregende Aufregung, die er in mir auslöste, bald neue Höhepunkte erreichen würde.