Er verlor kein Wort darüber, wohin es gehen sollte. Immerhin waren wir in Richtung Norden unterwegs, weit weg vom Supermarkt. Dort aufzuschlagen wäre mehr als idiotisch, da Gregor Chris sofort wieder herauswerfen würde. Und ich wollte ihm schon gar nicht begegnen. Bei den letzten Einkäufen war ich derart schnell durch den Laden gesprintet, dass ich es bisher vermeiden konnte, ihm unter die Augen zu treten. Nur die scherzhaften Kommentare wegen meiner Hektik musste ich an der Kasse über mich ergehen lassen.
Von weitem erkannte ich den roten Schriftzug der Total Tankstelle. Das Plastik des Schilds wurde vor Jahren von einem Sturm beschädigt, weshalb nur die ersten vier Buchstaben beleuchtet waren. Seither hat sich dieser Name in Wittelshain etabliert. Hier ging man nicht zur Total, sondern zur Tota, und das auch nur, wenn das Benzin nicht mehr bis zu den moderneren Tankstellen im Nachbardorf reichte oder man mitten in der Nacht Alkohol brauchte.
Ein Stück abseits blieb Chris stehen. Ich verstand nicht recht, was wir hier sollten, bis er mich verschmitzt angrinste.
„Du willst da doch nichts klauen?“
Was eine dumme Frage. Natürlich hatte er nichts aus dem Vorfall im Supermarkt gelernt. So wie er sich dort verhalten hatte, wie geschickt er die Batterien einsteckte und keine Miene verzog, war es eindeutig nicht das erste Mal gewesen. Mein Gedächtnis spielte die Ereignisse reflexartig wieder ab und ließ meine Fingerspitzen kribbeln.
„Ich klau doch nix“, erwiderte er gespielt unschuldig. „Ich lass nur das ein oder andre mitgehen. Nix, was die vermissen.“
Unsicher rieb ich mir die Hände. Ich musste das Prickeln loswerden, dass jetzt bis in meine Handgelenke zog.
„Auf, du bist mir was schuldig“, sagte Chris mit Nachdruck.
„Ich? Wie das?“
„Hast mir die Tour im Supermarkt versaut.“
„Was?!“
Das hatte ich definitiv anders in Erinnerung, aber er trat überzeugt an mich heran, bis sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt war. Wenn ich mich nur etwas vorgebeugt hätte, hätte ich ihn küssen können.
„Wenn du mich nich so angegafft hättest, wär dieser Arsch von Ladenbulle nich auf mich aufmerksam geworden.“
Es schoss mir heiß in die Wangen. Sicher glühte meine Haut in einem alarmierenden Rot. Ich öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus. Er verstand es als Einwilligung, daher legte er mir den Arm um die Schultern und drehte mich mit dem Blick zur Tankstelle. Das Glühen rutschte in den Bauch und ließ mein Herz flattern.
„Regel Nummer Eins: Lage checken“, erklärte er, ohne meinen körperlichen Ausnahmezustand zu bemerken. „Macht wenig Sinn was abzugreifen, wenn so 'n beschissen kleiner Laden voll von Cams oder Leuten is.“
Ich nickte einsichtig.
„Du kennst hier doch sicher jeden Arsch? Is in der Tanke mehr als einer?“
Ich dachte kurz darüber nach. Soweit ich wusste, jobbte der älteste Sohn der Ferns dort. Er hieß Jonathan und war selbst mit seinen neunzehn Jahren noch übersät von Pickeln. Der eigentliche Tankstellenbesitzer, Herr Gratier, war hochbetagt und im Laden nicht mehr tätig. Die Arbeit überließ er den Jüngeren, denen er als Aushilfen einen mageren Lohn zahlte. Zwei davon zur selben Zeit an die Kasse zu stellen, würde sein Geiz nicht zulassen.
„Nur einer“, antwortete ich. „Und zwei Kameras, eine vor dem Eingang und eine drinnen an der Theke. Ich schätze, die hinteren Regale erfasst sie nicht.“
Zufrieden grinste Chris und schubste mich sacht vorwärts.
„Auf geht's. Du gehst vor.“
Perplex sah ich ihn an.
„Um was zu tun?“
„Quatschen, des Kleidchen heben, von mir aus kannst dem Kerl auch einen blasen. Alles, damit der nich merkt, was ich tu.“ Er hob zwei Finger in die Höhe. „Regel Nummer Zwei: Aufmerksamkeit ablenken.“
Ich atmete tief ein, um meine aufsteigende Nervosität zu unterdrücken. Dann strich ich mir eine Haarsträhne hinter das Ohr und schritt mit gestrafften Schultern in Richtung Ladentür.
Doch noch bevor ich weit kam, hielt mich Chris zurück. Wie ein Stromstoß durchzuckte es meinen Arm an der Stelle, an der er die nackte Haut berührte.
„Die wichtigste Regel is: Keine Panik. Wenn du nervös wirst, merkt der sofort was.“
Wieder nickte ich.
Keine Panik, keine Panik, wiederholte ich innerlich wie ein Mantra, während ich durch die schmutzige Glastür trat. Das Glockenläuten ließ Jonathan flüchtig aufsehen, dann widmete er sich wieder seiner Zeitschrift. Im gemächlichen Gang schlenderte ich an dem Kühlregal voller Eis und Getränken vorbei. Es roch widerlich nach Reinigungsmitteln. Eine der Neonröhren an der Decke flackerte aufgeregt. Wie frustrierend es sein musste, in so einer Absteige zu arbeiten. Mit leisen Schritten näherte ich mich der Kasse. Du sollst nicht Katze spielen, sondern ihn ablenken, rügte ich mich.
„Hallo, Jonathan.“ Ich schenkte ihm ein warmes Lächeln, als ich vor ihm an der Auslage stand.
„Hallo, Melissa“, gab er höflich zurück. „Wie geht’s so?“
„Gut, gut.“
Mir fiel der runde Spiegel in der oberen Ecke auf. Er müsste nur ein wenig den Kopf neigen und hätte den kompletten Eingangsbereich im Blick.
„Und dir?“
Hinter mir hörte ich die Glocke erneut klingeln. Meine Augen huschten zum Spiegel, um mich zu vergewissern, dass Chris den Laden betreten hatte.
„Joar, auch ganz gut“, erwiderte Jonathan zögernd, unschlüssig darüber, wie er mein Verhalten deuten sollte.
Wir kannten uns kaum. Worüber also könnte ich mit ihm reden? Das Einzige, dass uns verband, war sein kleiner Bruder, der seit Monaten Nachhilfe bei mir nahm.
„Weißt du, ich finde ja, Benny ist so ein süßer Fratz“, begann ich und hätte mich für diesen unsinnigen Einstieg ohrfeigen können.
Aber es war der letzte Strohhalm, nach dem ich griff. Eigentlich der Einzige. Er lächelte schwach und murmelte ein zustimmendes „Mmh“.
„Er macht sich wirklich gut...“, plapperte ich weiter.
Das würde niemals funktionieren. Warum brauchte Chris auch so lange? Zwischen Jonathans Brauen bildete sich eine tiefe Denkfalte. Er fragte sich mit Sicherheit, warum um Himmels willen ich mit ihm über seinen Bruder sprach.
„Mit den Aufgaben kommt er super zurecht...“
Er schien gedanklich nicht länger bei mir, sondern bei dem neuen Kunden zu sein, der weder gegrüßt hatte, noch an die Kasse kam.
„Ich glaube, er ist nur ein wenig unkonzentriert...“ Ich hatte keine Ahnung, was ich weiter erzählten sollte. Sein Blick glitt an mir vorbei in die hinteren Regale. Lass dir etwas einfallen!, schrie mein Kopf.
„...wegen der Scheidung und so.“
„Der was?“
Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Die Lüge schoss mir rot ins Gesicht, ich spürte die Hitze an Wangen und Stirn. Aber meine Nervosität konnte auch als Unbehagen gedeutet werden.
Er fasste sich ungläubig an die Stirn.
„Das ist vollkommener Blödsinn“, stöhnte er. „Ich meine, klar, streiten sie in letzter Zeit häufig...“
Ein Treffer ins Schwarze. Ich konnte nicht fassen, mit dieser dreisten Aussage zumindest zum Teil richtig gelegen zu haben.
„Aber sie werden sich ganz bestimmt nicht scheiden lassen“, sagte er nachdrücklich, mehr, um sich selbst zu überzeugen als mich.
„Vielleicht habe ich das auch nur falsch verstanden.“ Meine Worte überschlugen sich beinahe, denn ich hörte endlich die Ladenglocke, die unmissverständlich klar machte, dass Chris ihn verlassen hatte.
„Und alle Eltern streiten sich mal.“
Er sah mich wehmütig an.
„Ich weiß einfach nicht, was ich noch mit ihr machen soll!“
Ich wagte einen Blick durch den Türspalt, als ich die laute Stimme meines Vaters hörte. Für den Rest des Tages durfte ich mein Zimmer nicht verlassen. Kein Fernsehen, kein Plantschen im Garten und schon gar kein Ballspielen. Was konnte ich denn dafür, dass Marlo so eine Heulsuse war?
Als Mama nach Hause kam, ging das Gestreite los.
„Sie ist nur ein wenig quirlig“, erwiderte Mama.
Ich konnte hören, wie müde sie klang. Das war sie immer, wenn sie aus dem Café kam.
„Ein wenig quirlig?! Weiß du, was sie heute getan hat? Marlo Seeberg hat einen Zahn verloren, Lilli, einen Zahn! Wir können froh sein, wenn die Seebergs uns nicht anzeigen.“
Mama seufzte schwer.
„Gib ihr Hausarrest, nimm ihr das Spielzeug weg-“
„Das hilft nicht mehr, Lil. Sie ist völlig außer Rand und Band.“
Kurz hörte ich keinen Laut mehr aus dem Wohnzimmer.
„Ich kann das nicht mehr“, sagte Papa irgendwann. „Der Job, der Kredit für das Café... die Tatsache, dass ich mich alleine mit Mel rumschlagen muss.“
Mama schwieg.
„Melissa?“ Ich sah zu Jonathan auf, der noch immer wie ein begossener Pudel hinter der Kasse stand.
„Könntest du das bitte für dich behalten? Es würde alles schlimmer werden, wenn es die Runde macht.“
Er hielt mir einen der Schokoriegel aus der Auslage hin. Ich wollte ihm nicht mehr zusetzen, obwohl ich die Bestechung ziemlich reizlos fand.
„Natürlich“, antwortete ich matt.
Geknickt ging ich mit dem Riegel, der sich schwer wie ein Zementblock anfühlte, in Richtung Ausgang.
„Bist ein nettes Mädchen, Melissa“, sagte Jonathan noch, dann ertönte die Glocke und die Türen schlossen sich hinter mir.
Chris war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich auf und davon gemacht, nachdem er das bekam, was er wollte. Dafür hatte ich an jemandes Familienglück gerüttelt. Ich schlurfte an den Zapfsäulen vorbei und kickte einen Kieselstein über den Beton.
Plötzlich wurde ich am Arm gepackt und zur Seite gezogen. Im Schatten der Tankstelle und damit auch der Kameras drückte mich Chris gegen die Wand.
„Guck dir das an“, sagte er stolz und öffnete seine Jacke, deren Innentaschen vor Süßkram, Knabberzeug und Energydrinks überquollen.
Er lehnte sich neben mich und riss eine Packung Bonbons auf.
„Was haste dem denn erzählt? Der war ja voll weg.“
„Ach, einfach irgendwas“, murmelte ich.
Skeptisch drehte ich den Riegel in der Hand.
„Haste den etwa mitgehen lassen, während du vor ihm standst?“, fragte Chris und in seinem Ton schwang ein Anflug von Bewunderung mit.
„Quatsch“, erwiderte ich. „Ich hab ihn geschenkt bekommen.“
Mein Gesicht verzog sich bei dem Gedanken an den Grund.
„Weil ich ein nettes Mädchen bin.“
Chris schüttelte lachend den Kopf und schob sich eine Hand Bonbons in den Mund.
„Was 'n Trottel.“
Ich zog eine übertriebene Schnute.
„Findest du mich etwa nicht nett?“
Das war zu offensiv gewesen. Aber wie schon in der Fabrik hatte ich es aus dem Bauch heraus gesagt, ohne meinen Kopf einzuschalten. Sonst passierte mir das in den seltensten Fällen.
Er stellte sich nah vor mich und hielt eines der kleinen Bonbons zwischen Zeigefinger und Daumen.
„Bist eher wie die Dinger hier“, sagte er. „Sehen klein und unschuldig aus, aber...“
Er legte seine Hand unter mein Kinn. Wie hypnotisiert starrte ich ihm in die dunklen Augen, beobachtete, wie er meine Lippen sanft öffnete, indem er das Kinn etwas nach unten schob, um mir das Bonbon auf die Zunge zu legen. Sofort strömte der süße Geschmack von Kirsche aus dem Drop und füllte meinen Mund. Darauf folgte eine Schärfe, die sich zunächst schwach, dann immer intensiver in mich hineinbrannte. Mir schossen Tränen in die Augen, mein Puls beschleunige. Ich musste das Ding loswerden.
„Nich ausspucken“, raunte Chris.
Im nächsten Moment drückte er seine Lippen auf meine. In meiner Brust raste es wie im Dauerlauf. Ich spürte seine warme Hand im Nacken, seinen Atem in meinem brennenden Mund, der kurzzeitig nicht wusste, was er tun sollte.
Es war kein unschuldiger Kuss, hatte nichts kindliches oder zaghaftes. Christian Martens küsste mich, als wollte er zeigen, dass ich nun zu ihm gehörte.