Der Stand, den meine Mutter beim Wittelshainer Frühlingsfest jährlich anmietete, ließ nicht viel Raum zum Arbeiten und gleichzeitigen Verkaufen der süßen Teilchen. Wir mussten ständig darauf achten, uns nicht gegenseitig auf die Füße zu treten, was hier oder da vorkam, wenn die Leute in einer Schlange vor dem Verkaufsfenster standen und es schnell gehen musste. Der kleine Platz in der Ortsmitte, auf dem sonst der Wochenmarkt stattfand, quoll an diesem Samstag schon am frühen Nachmittag über. An den Seiten reihten sich die hölzernen Verkaufsstände aneinander, allesamt ausgestattet mit Leckereien, regionalen Waren, Schieß- und Wurfspielen und Flohmarktartikeln. Dazwischen schoben sich die Menschenmengen voran, sammelten sich für einen Snack oder ein Gläschen Wein an den hohen Standtischen oder steckten ihre quengeligen Kinder in das buntleuchtende Karussell, auf dem schon ich als Vierjährige gesessen hatte. Und über allem schallten die Töne der Musikband, die einen alten Charthit nach dem anderen spielten.
„Jut siehste aus, Kind“, krächzte Gerda, während ich ihr die gefüllten Berliner Pfannkuchen herunterreichte. „Farbe haste bekommen. Dit is es.“
„Vielleicht ein wenig“, erwiderte ich verlegen und zupfte einen meiner Seitenzöpfe zurecht.
Da ich in letzter Zeit öfter draußen war als in den Jahren zuvor, würde es mich nicht wundern, wenn meine Wangen tatsächlich einen rosigeren Teint angenommen hatten.
„Komm ma, Iris.“ Gerda lenkte die Aufmerksamkeit der Alten zu mir, die von meiner Mutter gerade den Kaffee im Pappbecher entgegennahm. „So sieht een jückliches Mädchen oos, wa?“
„Melissa, Täubchen, wie gut du aussiehst. Da steckt doch bestimmt ein Junge dahinter?“, sagte Iris und zwinkerte mir zu.
Sofort schoss es mir warm in die Wangen.
„Weeste noch der Kleene?“, warf Gerda ein, bevor ich mich zu einer Antwort durchringen musste. „Wie hieß der noch? Scheferling, ja, dit war een schnieker. Wie meen Jünter, 'n richtjer Gentlemen...“
„Melli, schaust du bitte nach den Berlinern?“, rief meine Mutter und mit einer unauffälligen Geste dankte ich ihr für die Rettung.
Plappernd verschwanden die alten Damen wieder in der Menge, während ich die runden Teigmassen im Ölbad drehte. Das vierte Jahr in folge tat ich das bereits, wobei ich mich anfangs noch auf einen kleinen Hocker stellen musste, um über die breite Pfanne zu kommen. Heute ging das Wenden, Befüllen und Glasieren in eingeübten Arbeitsschritten wie von selbst.
Die Coverband stimmte mit einem Gitarrenriff die bekannte Melodie von Highway to hell an. Gutgelaunt tanzten meine Schultern mit, als ich frischen Kaffee an die nächsten Kunden ausgab. Der Arm meiner Mutter hakte sich bei mir ein und wir schaukelten im Takt des Songs, bis wir uns anlachten und den Text lauthals mitsangen. Und obwohl alle AC/DC Platten in unserem Haus ordentlich aufgereiht im Regal standen, hatten wir das lange nicht mehr zusammen getan. Denn einer würde dabei immer fehlen, egal wie laut wir singen würden. Mama stieß mich mit einem Hüftschwung zur Seite, sodass mir beinahe der Kaffee über die Auslage schwappte. Ich prustete los, als sie sich erschrocken die Hand auf den Mund schlug. Sie konnte wirklich kein bisschen tanzen, schon damals nicht, wenn Papa sie bei seinen Lieblingssongs durch das Wohnzimmer gedreht hatte. Entschuldigend nahm sie mich in die Arme. Ein paar Leute vor dem Stand beklatschten unsere witzige Einlage.
„Weißt du noch...?“, flüsterte sie und ich nickte wohlwissend.
Sie löste sich von mir, straffte die Schultern und musterte mich mit einer verspielten Neugier.
„Also, möchtest du mir von ihm erzählen?“
„Öhm, von wem?“
Sie konnte nicht wissen, dass ich mich mit jemanden traf. Ich hatte peinlich genau darauf geachtet, vor ihrem Feierabend zuhause zu sein, damit die gemachte Wäsche und das gekochte Abendessen den Anschein erweckten, ich wäre den halben Tag dort gewesen. Zunächst kam es mir albern vor, ihr etwas zu verschweigen, schließlich war sie die Einzige in meinem Leben, der ich beinahe alles erzählen konnte. Aber dann wurde mir klar, dass ich selbst nicht genau wusste, was das zwischen mir und Chris war. Ein Flirt, eine anbahnende Beziehung, oder doch nur eine ungewöhnliche Freundschaft? Solange diese Unklarheit herrschte, wäre ein Gespräch darüber nicht der Mühe wert. Zumal sie sich nach ihrer merkwürdigen Einschätzung über Chris sicher nur unnötig sorgen würde.
Sie lächelte mir liebevoll zu, während ich versuchte, mich vor dem Thema zu drücken, indem ich mich wieder der Arbeit zuwandte.
„Meinst du nicht, es fällt einer Mutter auf, wenn die eigene Tochter plötzlich strahlend durch die Gegend tänzelt?“
„Ich habe vielleicht einfach nur gute Laune?“
Sie schmunzelte, bohrte aber nicht weiter nach. Bald schon wippte ich wieder vergnügt zum Takt der Musik und reichte dutzende Backwaren und Becher herunter. Dabei überflogen meine Augen immer wieder den Festplatz, den ich von meiner erhöhten Position aus bestens überblicken konnte. Chris hatte mich beim letzten Mal schon auf die Plakate im Ort angesprochen und gefragt, ob ich auch dort sein würde. Er war ganz begeistert, als ich ihm sagte, dass nicht nur sämtliche Wittelshainer dort wären, sondern auch jede Menge Leute aus den umliegenden Dörfern. Seine Euphorie konnte ich zwar nur bedingt teilen, denn für mich bedeutete das Fest hauptsächlich Arbeit, dennoch wartete ich gespannt darauf, ihn unter den Besuchern zu entdecken. Bisher hatte ich nur Lena-Marie gesehen, die mir an der Seite ihrer Eltern zuwinkte, Gregor, wie er sich mit seinem breiten Schultern durch die Menschenmasse schob und unseren Stand glücklicherweise nicht ansteuerte, sowie Mariell, die einen missgelaunten Eindruck machte. In der Schule hatte sie jedem voller Bestürzung mitgeteilt, dass ihr Fahrrad verschwunden war und sogar ein Bild davon mit einem Finderlohn an die wiederhergestellte Infotafel gepinnt. Vielleicht sollte ich ihr die Einzelteile in den Briefkasten stopfen, mit einem anonymen Zettel, auf dem ich den Teilbetrag forderte. Ich lachte leise in mich hinein. Sollte sie doch ganz Wittelshain mit ihren Bildern zukleistern, ihr Rad würde sie niemals wiedersehen. Kein Riding on way of love mehr.
Die rote Kappe, die er verkehrt herum trug, ließ ihn aus der Menge herausstechen. Gemütlich schlenderte er an dem Karussell und einigen Ständen vorbei, schien sich dabei allerdings für die Besucher mehr zu interessieren als für die angebotenen Sachen. Ihn auf diese versteckte Art zu beobachten, erinnerte mich an unsere erste Begegnung im Supermarkt, und genauso schnell spürte ich wieder das aufkommende Kribbeln in meinen Fingerspitzen. Er kam an den Standtischen einer Fressbude vorbei, die von kleinen Menschentrauben umschlossen waren. Ein kurzes Anrempeln genügte, um die nötige Aufmerksamkeit zu bekommen. Seine Hand hob sich entschuldigend, mit der anderen griff er hinter der Person nach der auf dem Tisch liegenden Pommestüte und schon verschwand sie unbemerkt. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. Bei ihm sah es so einfach aus, wie ein einstudierter Zaubertrick, schnell und geschickt. Er nahm einen Bissen, verzog das Gesicht und schmiss sie in die nächste Tonne. Man konnte eben nicht immer gewinnen. Dann holte er sein Handy aus der Tasche. War das der Moment, in dem er mir schreiben würde? Meine Augen wurden schmaler, um seinen Gesichtsausdruck genau zu studieren. Er zögerte. Weshalb? Ein Ausrufezeichen und ich wäre bei ihm. Was gab es da zu überlegen? Im nächsten Moment lächelte er das Display an. Das Handy in meiner Schürze brummte leise und schickte die Vibration direkt in mein Herz. Er hatte gelächelt, meinetwegen! Das war mein Lächeln gewesen, es gehörte nur mir.
„Fräulein, hallo?“
Der Mann unter mir winkte ungeduldig. Höflich reichte ich ihm die Bestellung, obwohl ich ihn innerlich dafür verfluchte, dass er sich zwischen mir und diesen wundervollen Augenblick gedrängt hatte. Als ich wieder aufsah, war Chris verschwunden.
„Brauchst du noch Hilfe, Mama?“, fragte ich, riss aber bereits die Schürze von mir.
„Nein, nein, Maus. Geh und amüsier dich.“
Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und schlüpfte durch die schmale Hintertür hinaus in das Gedränge.