Ein weiterer Tag verstrich ohne eine Antwort von Chris. Auf dem Herd brodelte das Chili leise vor sich hin, während ich auf mein Handy starrte, dass nicht willig war, sich zu rühren. Eigentlich hätte ich längst mit dem Lernen für eine anstehende Geschichtsarbeit anfangen sollen. Aber der Vertrag von Versailles interessierte mich gerade ebenso wenig wie das Schmutzgeschirr in der Küche. Er hatte die Nachricht gesehen, die blauen Häkchen neben meinem Fragezeichen verrieten es mir. Warum er nicht reagierte, konnten sie mir allerdings nicht erklären, dieses Geheimnis gehörte ganz und gar dem Empfänger. Mit einem frustrierten Grummeln begann ich neben der schmalen Küchenzeile auf und ab zu gehen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, ihn aus der Reserve zu locken. Etwas, dass ihn interessierte, ein Köder sozusagen. Was konnte ich ihm präsentieren, was wollte er?
Die Lösung trieb mich in mein Zimmer. Ich schwang die weißlackierte Tür des Kleiderschranks auf und tastete in die hinterste Ecke, unter Wollpullover und dickgefütterten Winterjacken. Hier hatte ich die Tasche seit dem Wochenende versteckt, solange bis ich wissen würde, was damit anzufangen war. Am Riemen zog ich sie aus dem Kleiderstapel und musste darauf achten, dass mir das gewichtige Ding nicht auf den Boden sackte. Das Innere sollte unter keinen Umständen beschädigt werden, sonst würde es deutlich an Reiz verlieren. In der Küche legte ich sie behutsam auf den Boden, öffnete weit den Reißverschluss, sodass die Gegenstände darin gut erkennbar waren, und betätigte im Nachrichtenverlauf meines Handys das Kamerasymbol. 'Willst du das nicht haben?' schrieb ich unter das Bild und schon war es versendet. Ein wenig provokant, das musste ich zugeben, aber der Zweck heiligt bekanntermaßen die Mittel. Ich biss mir auf die Lippe, während ich wie gebannt auf das Display starrte.
Doch anstatt des Summens einer eingehenden Nachricht hörte ich das Schloss der Haustür klicken. Hastig schob ich den Verschluss der Tasche zu.
„Hallo Maus“, schallte es fröhlich aus dem Flur und schon erschien Mamas Kopf am Türrahmen.
„Was riecht denn hier so fantastisch?“
Ich sprang zum Wandregal und holte klappernd das Geschirr heraus.
„Chili“, antwortete ich knapp. „Hast du Hunger?“
„Wie ein Bär.“
Ihr Kopf verschwand wieder im Flur und mit einem gezielten Tritt kickte ich die Tasche weit unter den Esstisch. Es wäre aussichtslos, sie zurück in mein Zimmer zu bringen, ohne dass meine Mutter etwas davon mitbekam. Also musste der Haufen gestohlener Sachen während dem Essen zwischen uns liegen bleiben. Beim Einfüllen des Chilis in die Teller zitterte ich leicht. Die wichtigste Regel lautet keine Panik, rief ich mir ins Gedächtnis.
„Du bist ein Engel“, sagte meine Mutter als sie eintrat, küsste mich auf die Stirn und ließ sich auf den Stuhl sinken. „Das sieht unglaublich gut aus.“
Seit ich beim Fest meine schlechte Laune an sie ausgelassen hatte, überschlug sie sich mit wohlwollenden Worten. Wenn sie etwas nicht ertragen konnte, dann die Annahme, man wäre ihr böse. Dabei war ich längst nicht mehr sauer auf sie. Überhaupt war der Gedanke, dass sie mit dem Ladenochsen geflirtet hätte, ziemlich lächerlich. Diese Art von Männer fand sie nicht anziehen. Eigentlich gar keine bis auf meinen Vater. Und Gregor ähnelte ihm nicht im mindesten, weder im Aussehen noch charakterlich.
„Ach, Mama, das ist doch nur Hackfleischpampe“, erwiderte ich, lächelte sie jedoch dankbar an, um ihr zu zeigen, dass zwischen uns alles gut war.
Sie drückte zärtlich meine Hand und begann zu essen. Unter dem Tisch wippten ihre überschlagenen Beinen bei jedem Bissen vor und zurück. Ich fragte mich, wie weit ihre Füße wohl reichten und ob sie das Leder der Tasche bereits unbemerkt gestreift hatten.
„Gibt's was Neues aus dem Café?“
Kurz dachte sie mit gespitzten Lippen darüber nach.
„Für den nächsten Monat kamen schon Bestellungen. Nichts Großes, aber die Hochzeitssaison läuft ja erst auch an. Theresa wäre in der Zeit auch wieder öfter da. Sie sagt, ihr Praktikum für die Uni ist in zwei Wochen vorbei.“
Wenn sie im Praktikum genauso selten erschien wie zu ihren Schichten im Café, konnte ich mir kaum vorstellen, dass es ihrem Studium großartig nützte. Ich freute mich schon auf den Tag, an dem ihr ihre Faulheit zum Verhängnis werden würde.
„Und was gibt’s sonst so?“, wechselte ich das Thema, ehe ich anfing, mich gedanklich über Theresa aufzuregen.
Meine Mutter betrachtete mich amüsiert.
„Dorffunk? Seit wann interessierst du dich denn dafür?“
Ich rührte verlegen im Chili herum. Sie hatte recht, sonst langweilte mich der Tratsch der anderen. Vielleicht ließ mich die Monotonie der letzten Tage nach jedem verkümmerten Grashalm greifen. Bereitwillig ging meine Mutter die Neuigkeiten durch wie ein Zeitungsbericht. Angefangen bei der Verschlimmerung der Arthritis von Gerda Alsbach, über den Nachbarschaftsstreit der Seebergs und Reichenbachers wegen der Beseitigung eines morschen Baums, bis hin zur anstehenden Erneuerung des defekten Tankstellenschilds. Alles absolut unbedeutender Kram, auch wenn meine Mutter mit schlagzeilenartigen Betitlungen bemüht war, dem Ganzen eine satirische Dramatik zu geben. Ernüchterung machte sich in mir breit. Irgendwie hatte ich auf ein kleines Gerücht über Chris gehofft. Ob es wahr oder an den Haaren herbeigezogen wäre, hätte mich nicht gekümmert, solange es mir nur in Erinnerung rief, dass er da draußen noch existierte.
„Ich muss dann mal für eine Arbeit lernen“, erklärte ich nach dem Essen, räumte den Teller in die Spüle und verzog mich zusammen mit dem Handy aus der Küche.
Die ganze Zeit über war es stumm geblieben. Mit was beschäftigte er sich denn, dass er nicht einmal zurückschreiben konnte? Oder lag es allein an seinem Stolz, weil ich beobachtet hatte, wie sein Vater ihn anging? Es war zum Verzweifeln.
„Du hast deine Tasche vergessen, Melli-Maus!“
Ich erstarrte.
Noch bevor ich zurückstürzen konnte, hielt meine Mutter sie in den Händen.
„Mein Gott, ist die schwer. Was hast du denn da drin?“
Mit einem Mal wurde mir speiübel. Wenn sie den Reißverschluss nur ein wenig aufzog, würden ihr all die gestohlenen Sachen entgegenkommen. Das Bild, wie sie fassungslos einen Geldbeutel nach dem anderen herausnahm, brannte sich ätzend in meinen Bauch. Eine neue Schlagzeile tauchte vor meinen Augen auf: Mutter findet Diebesgut bei geliebter Tochter. Allein eine alltägliche Bewegung trennte uns von dieser Apokalypse. Ich schluckte die aufkommende Magensäure herunter, im Wissen, dass ich sie nicht belügen konnte.
„Ach, weißt du“, antwortete ich und zwang mich zu einem Lächeln. „Geklaute Handys, Uhren und so was.“
Unzählige Momente schienen zu verstreichen, bevor sie eine Reaktion zeigte. Sie lachte.
„Ja klar, was denn sonst? Vielleicht noch einige Drogen und Bargeld? Wenn du bei Kreditkarten angekommen bist, sag Bescheid, dann können wir uns ein schönes Leben auf Teneriffa machen.“
Ich stimmte in ihr Lachen ein, das gequält aus meinem Hals drang. Dann reichte sie mir die Tasche mit einem amüsierten Kopfschütteln. Sie fühlte sich um einiges schwerer an als zuvor. Vielleicht lag es aber auch nur an meinen Beinen, die damit drohten, ihren Dienst aufzugeben.