Ich schulterte meinen Rucksack und trat den Rückweg nach Hause an. Der Tumult der 8c hatte sein Ende genommen als sich Frau Schuter in einem Anflug aus Mut, den ich ihr nicht zugetraut hätte, zwischen die Mädchen geworfen und so auseinandergebracht hatte. Ohne ihren Verweis abzuwarten, war Mariell wie ein zerrupftes Huhn aus dem Zimmer gestürmt. Kurz darauf wurde Steffi mit einigen Kratzern und Blessuren zur Schulkrankenschwester geschickt, von der auch sie nicht wiederkam. Und das war es dann.
Wirklich glücklich über diesen Verlauf war ich nicht, denn niemals hätte ich mir vorstellen können, dass es derart eskalierte. Aber ein schlechtes Gewissen bahnte sich auch nicht an. Im Gegenteil, während ich durch die leeren Straßen von Wittelshain trottete, füllte mich eine Art dumpfe Genugtuung aus, die mir sagte, dass das Gleichgewicht wiederhergestellt war. Ich für meinen Teil hatte nur den Stein ins Rollen gebracht, die alles zerstörende Lawine jedoch wurde von Mariell selbst ausgelöst. Nun müsste sie mit den Konsequenzen leben.
„Na guck mal, wen wir da haben!“
Ich warf den Kopf in die Richtung, aus der der Ausruf kam und sah die Jungen meiner Schule geradewegs auf mich zukommen. Mit einem herausfordernden Grinsen in seinem pickligen Gesicht führte Steven das Trio an. Ihm folgte Jan, dessen Oberlippenflaum und zusammengewachsene Augenbrauen ihn aussehen ließen wie ein Affe. Das Schlusslicht bildete der kleine Marlo Seeberg, der gar nicht mehr so klein war, seine dicken Pausbacken jedoch nie verloren hatte. Bei seinem dümmlichen Lächeln kam der Drang in mir hoch, ihm einen weiteren Zahn auszuschlagen. Stattdessen wandte ich mich gleichgültig ab und wollte meinen Weg fortsetzen, hätte sich Steven mir nicht direkt in den Weg gestellt.
„Wohin so eilig?“, säuselte er in einem ekelerregenden Ton.
Er streckte die Hand nach meinem Haar aus, die ich augenblicklich wegschlug. Was bildete sich dieser hässliche Vogel eigentlich ein?!
„Spielen wir wieder Eiskönigin?“, frotzelte Jan direkt neben mir.
Ich versuchte, Abstand zu gewinnen, stieß aber gegen Marlo, der keine Anstalten machte, mir mehr Raum zu lassen. Sie hatten mich umzingelt.
„Verzieht euch!“, zischte ich.
Sie lachten nur und einer von ihnen zog an meinem Rucksack. Ich wirbelte herum, aber schon stand der nächste hinter mir, griff in mein Haar, während ein anderer mich am Arm packte.
„Du sagst doch zu keinem Nein, ist doch so?“
Mein Herz raste. Was passierte hier?
„Die muss nur mal richtig rangenommen werden.“
Ich bekam keine Luft, versuchte, ihrer gefährlichen Nähe zu entkommen. Meine Sicht verschwamm, ich wusste nicht, auf welchen der Dreien ich mich fixieren sollte. Ihre widerlichen Griffel schienen überall zu sein. Irgendeinen von ihnen spuckte ich an, einem anderen rissen meine Finger etwas vom Hals. Bis auch der zweite Arm festgehalten wurde.
„Hey, Jungs“, drang plötzlich eine ruhige, aber bestimmte Stimme durch das Chaos. „Lasst die Kleine in Ruhe.“
Es war der älteste Sohn der Diedsens, Sören, der mit seinen kräftigen Oberarmen und der stillen, ausgewogenen Art der Schwarm aller Wittelshainer Mädchen war. Allesamt standen sie Schlange an der Pferdekoppel der Familie Diedsen, um ihn beim Satteln der großen Tiere anzuhimmeln, in der Hoffnung, seine strahlend blauen Augen würden sie bemerken.
Diese Augen blickten nun auf die Jungen herab, die im Vergleich zu ihm geradezu mickrig wirkten.
„Wir quatschen doch nur“, erwiderte Jan vorlaut, ließ aber wie die anderen von mir ab, um einen Schritt zurückzuweichen.
Sören betrachtete ihn mit einem unaufgeregten Ausdruck.
„Überleg dir das genau, Jan Wójcik. Dein Vater kommt alle paar Wochen für die Vereinsspiele bei uns vorbei. Was würde er wohl sagen, wenn er herausfindet, dass du kleine Mädchen belästigst?“
Jan schluckte hörbar.
„Und Marlo“, sagte er und wandte sich an das Mopsgesicht. „Ich glaube, deine und meine Mutter sind im selben Lesekreis.“
Marlo zog den Kopf ein und tauschte hektische Blicke mit Jan, ehe beide das Weite suchten. Jetzt stand nur noch Steven da, mit der ängstlichen Miene eines Kindes, dem eine Tracht Prügel bevorstand.
„Steven Stickel.“
Mehr musste Sören nicht sagen, denn jeder wusste, dass er mit dessen älterem Bruder befreundet war. Und dem gesenkten Blick zu urteilen, wollte es sich Steven lieber nicht mit ihm verscherzen.
„Vielleicht solltest du dich jetzt entschuldigen.“
„T-tut mir Leid, Melissa“, stammelt er ohne aufzusehen, und machte sich davon.
Ich starrte Sören an, der dem Trio mit einem wissenden Lächeln nachsah, als hätte er soeben seine Freunde verabschiedet. Meine Hand klammerte sich noch immer an dem fest, was ich einem der Jungen vom Hals gerissen hatte. Es war ein Lederband, an dem ein Davidstern baumelte.
„Die werden dich in Zukunft wohl in Ruhe lassen“, sagte Sören und hob meinen Rucksack vom Boden.
„Danke...“, murmelte ich.
Mehr ließ die Verwunderung nicht zu. Warum hatte er mir geholfen? Nie hatten wir auch nur ein einziges Wort miteinander gewechselt. Wobei der Grund dafür uns beiden bekannt war...
„Komm, ich begleite dich nach Hause.“
Ein Angebot, um das mich jedes Mädchen beneiden würde.
„Das musst du doch nicht“, antwortete ich verlegen.
Er machte eine wegwerfende Bewegung, so leicht und lässig, als sei es eine einstudierte Geste.
„Es liegt sowieso auf meinem Weg. Und die Freundin von Christian kann ich ja wohl nicht alleine nach Hause gehen lassen.“