Die Zeiger meiner Armbanduhr trieben mich dazu an, noch schneller durch die Häuserreihen zu rennen. Jedenfalls soweit es mir die schweren Einkaufstaschen in den Händen möglich machten.
Der Abend mit Chris hatte sich in die Länge gezogen, erst gegen elf Uhr hatte die feuchte Kälte der Fabrik ihn veranlasst, mit mir zurück nach Wittelshain zu gehen. Aber während als wir über den von Wasser aufgeweichten Waldboden gestakst waren, war mir klar geworden, dass es nur ein vorübergehender Sieg bedeutete. Das Wetter würde ihn nicht jedes Mal zur Heimkehr zwingen.
Ich für meinen Teil war froh gewesen, als ich in meinem warmen Zuhause angekommen war, und auch erleichtert darum, im Flur das leise Schnarchen meiner Mutter zu hören. Es verschaffte mir einen kleinen Aufschub, den ich brauchte, um mir eine passende Erklärung für mein langes Fortbleiben zurechtzulegen. Noch bevor ich unter die Decken kroch, ratterte mein Kopf sämtliche Antworten herunter. Nicht nur welche für meine Mutter. Auch Chris Frage schlich sich in meine Gedanken und verlangte nach einer Antwort. Ja oder Nein. Es wäre so einfach, diese Worte auszusprechen, wenn ich nicht dabei das Gefühl hätte, hin- und hergerissen zu sein. Die Vorstellung, Chris Körper auf meinem liegen zu haben, seine Haut auf meiner zu spüren, setzte sofort das heiße Brodeln in Gang. Ich wollte ihn küssen, wollte ihn berühren. Aber reichte das schon aus, um mit jemandem zu schlafen? Ich wusste es nicht.
Am Morgen darauf dann bezahlte ich den Preis für die Grübelei: Ich ignorierte den Wecker und erst als ich um acht im Halbdelirium auf die Uhr sah, registrierte ich entsetzt, dass ich den Beginn der Samstagsschicht verschlafen hatte. Mit einem trockenen Toast im Mund war ich aus dem Haus zu Schraders gestürzt, um danach vollbepackt durch den Ortskern zu stürmen. Ich war vollkommen außer Atem, als ich die Hintertür des Cafés aufstieß, die direkt in die Backstube führte. Die gaffenden Blicke der Gäste im vorderen Teil wollte ich mir heute nicht antun. Dafür bekam ich den missbilligenden Ausdruck von Theresa zu Gesicht, die gerade dabei war, meiner Mutter ein Blech mit frischgebackenen Croissants abzunehmen. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und verschwand im Verkaufsraum. Damit blieb Mama und ich alleine in der Backstube.
Ich stellte die Taschen ab, murmelte ein „Morgen“ und machte mich eilig auf die Suche nach meiner Schürze.
„Ist gestern etwas spät geworden“, bemerkte meine Mutter, während sie ein weiteres Blech aus dem Ofen nahm.
„Jopp“, erwiderte ich kurz angebunden und beugte mich tief in die Garderobennische.
Für große Aussprachen hatte ich keine Zeit, ich musste mich um die Arbeit kümmern. Die Schürze allerdings schien sich auf und davon gemacht zu haben. Ich suchte die offene Regalwand mit den Unmengen an Küchenutensilien ab. Wo hatte ich das Ding das letzte Mal hingelegt? Meine Mutter wollte gerade zur nächsten Bemerkung ansetzen, als ich aus der Stube zur Theke rauschte. Auch dort war keine Spur von meiner Schürze. Verzweifelt wanderte mein Blick durch das Café, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Wo war sie nur?
Dann plötzlich kam sie hinter Theresa hervor. Sie hing am Hals einer Brünette mit Stupsnase und spazierte durch das Café, als wäre es das Normalste der Welt. Das Mädchen, das sie trug, war Silvi Schröder. Sie ging zwei Klassen über mir zur Schule und gehörte ein Jahr zuvor noch der Schülervertretung an. In einem federleichten Gang schwebte sie zu den Bistrotischen, nahm Bestellungen auf und schenkte jedem ein überzogen freundliches Lächeln. Was zum Teufel?! Zornig stampfte ich in ihre Richtung, wollte sie auf dem Weg zur Kasse abpassen. Doch meine Mutter streckte den Kopf aus der Backstube und wies mich mit einem Winken zu sich. Schnaubend folgte ich ihr, während meine Schürze weiter fröhlich von Gast zu Gast hüpfte.
„Warum hat Silvi Schröder meine Schürze an?“, platzte es aus mir heraus, nachdem meine Mutter die Tür hinter uns geschlossen hatte.
Schwer seufzend lehnte sie sich gegen den Ofen.
„Ich habe sie eingestellt“, sagte sie schließlich. „Sie ist ein offener, herzlicher Mensch und außerhalb der Schulzeit sehr flexibel.“
Grimmig verschränkte ich die Arme und fixierte eine lose Kachel an der gegenüberliegenden Wand.
„Du hättest mir Bescheid sagen können, dass ich heute nicht kommen muss“, brummte ich.
Sie kam auf mich zu, um ihre warmen Hände um meine zu legen. Ich spürte, wie es den Groll dämpfte, versuchte aber trotzdem, daran festzuhalten wie ein bockiges Kind.
„Ich wollte es gestern mit dir besprechen. Mel, sieh mich an, mein Schatz.“
Wieder schnaubte ich, ließ mich dann aber von ihrem warmen Ton erweichen. Ihre Augen sahen wehmütig drein.
„Seit Bern... also seit er gegangen ist, hast du mich immer unterstützt und trotz der vielen Arbeit deine eigene Zukunft nicht aus den Augen verloren. Es ist einfach unglaublich, was du in den letzten Jahren alles geschafft hast. Aber...“ Sie hielt kurz inne, um mir zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. „Es ist, als hättest du die letzte Stufe zum Erwachsenwerden einfach übersprungen. Und mir ist klar, dass ich dabei keine unerhebliche Rolle gespielt habe.“
Ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte. Hier ging es nicht um mich, sondern um die Schröder, die meine Schürze trug!
„Versteh mich bitte nicht falsch, ich bin unglaublich stolz auf dich, denn ich war in deinem Alter nicht halb so besonnen und ehrgeizig... Aber das ist nicht alles, Melli-Maus. Du bist noch so jung. Du solltest diese wichtige Phase deines Lebens nicht mit Arbeiten verschwenden. Du solltest rausgehen, dich mit Freunden treffen und das Leben genießen.“
Jetzt erst fiel der Groschen. Ich zog meine Hände aus ihre und taumelte entsetzt zurück.
„Du schmeißt mich raus?!“, rief ich. „Weil ich einmal in vier Jahren zu spät gekommen bin?“
„Mel, es geht doch nicht um das Zuspätkommen...“
Natürlich nicht, es ging vielmehr um das dumme Geschwätz der anderen, die Tatsache, dass sich ihre Tochter mit Assi-Martens traf und sich deshalb niemand mehr von ihr bedienen lassen wollte. Bitter presste ich die Lippen zusammen, damit aus ihnen kein Wort kam, das ich später bereuen würde.
„Maus, ich meine es doch nur gut-“, sagte sie, doch ich stürmte davon.
Ihre weichgespülten Erklärungen wollte ich nicht hören. Ich rauschte an Silvi vorbei, die mir entschuldigend zulächelte. Diese dumme Kuh! Am liebsten hätte ich ihr vor aller Leute die Schürze vom Hals gerissen und ins dämliche Gesicht gespuckt. Stattdessen stampfte ich wutentbrannt aus dem Café.