Die Überraschung mich zu sehen, spiegelte sich nur einen Augenblick lang in seiner Miene, bevor sie sich verdunkelte. Mit einer von Farbflecken übersäten Hand fuhr er sich über das zerzauste Haar. Die Schatten unter den Augen verrieten, dass auch er kurze Nächte hatte.
„Was machst'n du hier?“
All mein Mut kippte. Natürlich, wenn er mich bei sich hätte haben wollen, hätte er mir eine Nachricht geschickt. Was also tat ich hier? Mein Verstand ratterte sämtliche Antworten herunter und blieb an der Wahrheit hängen wie klebrige Schokoladentorte an Zunge und Gaumen.
'Ich wollte dich sehen. Ich wollte dir sagen, dass du das beste und aufregendste bist, dass mir seit Jahren passiert ist. Und dass selbst dein Vater, dieses Arschloch, daran nichts ändern wird. Denn du bist absolut unglaublich und ich... ich habe dich vermisst. So sehr, wie ich bisher nur eine Person vermisst habe. Und das hat doch etwas zu bedeuten?'
Ich streifte meine Tasche von der Schulter und ließ sie zu Boden gleiten.
„Ich kann die Sachen nicht länger Zuhause verstecken“, antwortete ich stattdessen mit belegter Stimme.
Auch das stimmte, denn ich war mir sicher, dass mich das gestohlene Zeug um den Verstand bringen würde. Seine Augen wanderten von der Tasche zu mir. Keiner von uns wagte es, die Distanz zwischen uns zu verringern. Sein Mund, der sonst immer von einem selbstsicheren Lächeln umspielt wurde, blieb ausdruckslos wie der Rest seines Gesichts. Wir waren tatsächlich zu Fremde geworden, die neu beginnen mussten.
„Ist hübsch geworden“, sagte ich mit Blick auf die Graffitis, um das unangenehme Schweigen zu brechen.
Er zuckte die Achseln, schüttelte die Dose, sodass die Kugel darin aufgeregt gegen das Gehäuse klackerte und ließ sie genervt zu Boden fallen.
„Ich brauch mehr Farbe“, murrte er. „Is im Nebenraum. Ne Rote.“
Sofort sprang ich auf und durch den nahen Türrahmen. In der Ecke standen zwei aufgerissene Kartons mit gestapelten Dosen in unzähligen Farbvarianten. Ohne mich gedanklich damit zu beschäftigen, woher er die hatte, fischte ich Eine in knalligen Rot heraus, eilte zurück und hielt sie ihm triumphierend hin. Mit einem kräftigen Orange war er derweil wieder vertieft in die Arbeit, die Dose nahm er ohne wirklich Notiz von mir zu nehmen entgegen. Er wollte mich eindeutig loswerden. Dafür müsste er allerdings mit dem sprayen aufhören und selbst gehen, denn ich war nicht gewillt mich vergraulen zu lassen. Im Schneidersitz setzte ich mich einige Meter entfernt auf den Boden. Die nahen Dämpfe verursachten mir Kopfschmerzen. Aber solange ich nur bleiben dürfte, würde ich es in Kauf nehmen.
„Was soll'n das Outfit?“, fragte er irgendwann ohne sich von der Wand abzuwenden.
Unwillkürlich knöpfte ich die Bluse weiter zu. Wie ich wirkte sie vollkommen fehl am Platz und ich bereute meinen Einfall, mir dadurch seine Aufmerksamkeit sichern zu können.
„Ach, ich dachte mir, ich lasse das mal mit dem kleinen Mädchen“, versuchte ich lässig zurückzugeben.
„Dachte, darum geht’s?“
Er sagte es derart desinteressiert, dass es auch dieses Gespräch beendete. Ich sackte mehr in mich zusammen. Und wartete.
Nach einer gefühlten Ewigkeit trat er von der Wand und begutachtete das Werk. In warmen Farben züngelten die Flammen über den nackten Ziegelstein. Dann endlich drehte er sich zu mir um. Meine Hartnäckigkeit hatte er wohl nicht erwartet.
„Willste auch mal?“ Er hielt mir die rote Dose hin.
Freudestrahlend schnellte ich hoch und nahm sie entgegen. Ein Friedensangebot hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber besser als nichts. Und auch wenn ich in Kunst eine Niete war, trat ich selbstsicher an eine freie Stelle und sprühte ohne groß nachzudenken los. Es musste etwas einfaches sein, ein paar Kanten, daneben einige rote Punkte. Den Totenkopf sowie den Devils Taste Schriftzug bekam ich nicht in das Rechteck, zu klein war es geraten und zu ungeschickt stellte ich mich beim Auftragen an. Entweder hielt ich die Dose zu dicht und die Farbe rann die Tapete herunter oder ich stand zu weit weg, sodass sie sich großflächig verteilte und keine Konturen hinterließ. Bei Chris hatte es einfacher ausgesehen.
Er kam an meine Seite und legte den Kopf schief.
„Mädel, das sieht absolut scheiße aus. Was soll'n das überhaupt sein?“
Ich setzte ein beleidigtes Gesicht auf.
„Eine Packung Kirschbonbons, das sieht man ja wohl.“
Mit dicken Strichen untermalte ich die Ränder meines scheußlichen Werks. Weitere rote Rinnsale tropften die Wand herunter.
„Hör auf für so'n Scheiß meine Farbe zu verschwenden“, maulte er neben mir.
Er versuchte, mir das Spray aus der Hand zu nehmen, aber ich machte einen Satz zurück und hielt sie außer Reichweite. Wenn er mich nur machen lassen würde, könnte ich mit etwas Übung vielleicht auch die einen oder anderen guten Bilder hinbekommen. Daran glaubte ich zwar nicht wirklich, aber an dem Werk beteiligt zu sein schien mir plötzlich unglaublich wichtig. Ich wollte nicht nur daneben sitzen und zusehen, ich wollte ein Teil davon werden.
„Gib her!“
Er startete einen neuen Versuch mir das Spray zu entreißen und obwohl ich ihn mit einem Arm auf Distanz hielt, bekam er sie letztlich zu greifen. Mit beiden Händen umklammerte ich das kühle Aluminium. Wie ein trotziges Kind war ich keineswegs bereit, mir mein Spielzeug wegnehmen zu lassen. Ich setzte darauf, dass ihm das Zerren über kurz oder lang zu blöd wurde, musste aber feststellen, dass er ebenso dickköpfig war wie ich. Unsere Finger krallten sich in die jeweils anderen, versuchten, sie von der Dose zu lösen, umfassten sie wieder an neuer Stelle. Bis einer von meinen an den Sprühknopf kam. Ein Zischen ertönte. Rasch zog ich die Hände von der Dose wie von einer tickenden Zeitbombe. Fassungslos starrte Chris auf seine Brust, die einen fetten roten Fleck zeigte. Als er den Blick wieder hob, wusste ich, dass ich schnellstmöglich das Weite suchen musste.
„Jetzt biste dran!“, sagte er und schüttelte das Spray.
Ich flitzte los. Hinter mir hatte ich noch das Zischen gehört, aber ich war bereits Meter entfernt. Er stürmte hinterher. Unsere Schuhe polterten über den Boden. Weit vor mir sah ich die Treppen. Wenn ich versuchen würde, über diesen Weg nach unten zu kommen, würde er mich entweder rasch einholen oder ich würde in der Hast von den Stufen stürzen. Meine Beine bogen zackig nach rechts und übersprangen eine Anhäufung Dosen. Chris war jetzt viel näher. Bevor ich mir einen genauen Plan zurechtlegte, stoppte ich abrupt, stürzte zurück und schlitterte vor die Dosen, wie ein Brennballspieler auf die sichere Base. In dem Moment, als ich eine davon wie eine Warnung vor mich hielt, stand er schon über mir. Mein Atem kam stoßweise, das Adrenalin rauschte durch meinen Kreislauf und ließ die Hand, die bereit war den Sprühknopf zu betätigen, zittern. Auch Chris Schultern hoben und senkten sich in schnellen Zügen, während er begriff, dass wir uns in einer Pattsituation befanden.
„Mach's und ich schmier dir das Zeug mitten in die Fresse“, sagte er und klang dabei so bedrohlich, dass ich es tatsächlich mit der Angst zu tun bekam.
Seine dunklen Augen fixierten mich bleiern, wie der Habicht eine Feldmaus, kurz vor dem Angriff. Dann aber blitzte ein Leuchten in ihnen auf, und mein Mundwinkel zucken nach oben. Es war ein Spiel, nichts weiter. Und ich würde es gewinnen. Zuversichtlich drückte ich auf den Knopf.
Ein leises Zischeln war zu hören, so elend wie das Ausströmen von Luft aus einem Ballon, und genauso viel entwich aus der Dose. Nur Luft. Auf seinem Gesicht breitete sich ein siegessicheres Grinsen aus, während meins alle Farbe verlor. Mit einem Mal stürzte er sich auf mich, das Spray in der Rechten. Ich riss die Arme in die Höhe, wollte verhindern, dass die weiße Bluse ruiniert wurde. Seine Linke packte meine Handgelenke, drückte sie nach oben und sprühte drauf los. Ich schrie spitz auf und wand mich, als die Farbe eiskalt durch den dünnen Stoff sickerte. Doch mit Chris Lachen ging es in ein Prusten über.
Als er fertig war, warf er die Dose fort und betrachtete das Massaker. Der Bluse war kaum eine weiße Stelle geblieben. Ich sah aus wie ein abgestochenes Tier, auf dem er rittlings saß. Sofort schoss es mir wieder glühend in den Bauch. Wie er mich so ansah, die forschenden Augen, die über meine Taille bis hin zu den Brüsten wanderten und an meinen Lippen hängenblieben. Sie schienen zu pulsieren. Seine Finger tasteten nach dem nassen Stoff, fuhren meinen Bauch entlang.
„Weißte, was man auf der Straße sagt?“, raunte er, noch immer vollkommen fasziniert von all dem Rot auf meinen Kurven. „Dem Sprayer gehört, was er anmalt.“
Er beugte sich herunter, schob eine Hand unter meinen Nacken und küsste mich, lange und intensiv, während ich das Gefühl hatte, unter seinen Händen zu zerspringen.