Der darauffolgende Tag war geprägt von bleiernen Wolken und schier endlosen Regen. Zusammen mit den Temperaturen brach auch meine Laune ein und erreichte am Nachmittag ihren Tiefpunkt. Chris hatte sich bisher nicht gemeldet. Wenn ich die Handvoll Menschen vor Mahlers Stand betrachtete und die wenigen Regenschirme auf dem Festplatz, gab es heute auch nicht viel zu holen. Weder als Verkäufer noch als Dieb. Dennoch hätte ich gerne gewusst, wie es ihm ging und wann wir uns wiedersehen würden. Aber das Handy blieb stumm, während die Tropfen unablässig auf das Vordach prasselten.
„Ja, wir haben gestern einen Flyer von ihrer - ich nehme mal an Tochter – bekommen“, erklärte eine Dame mit Mondgesicht, als sie Kakao und Zimtschnecken von meiner Mutter entgegennahm. Sie zwinkerte mir zu, aber ich erinnerte mich nicht an sie. Zu viele Leuten hatte ich gestern angesprochen. Flüchtig fragte ich mich, was von ihr ich in meiner Tasche wohl mit nach Hause genommen hatte.
Meine Mutter machte wie üblich Konversation und fragte, wie ihr das Fest bisher gefiel. Sie erzählte irgendetwas ödes von ihrem Schwager, der jahrelang ehrenamtlich für die Festzeltorganisation zuständig gewesen war, dass sie aus diesem Grund auf die Veranstaltung aufmerksam wurde und seither jedes Jahr mit ihrer Familie nach Wittelshain gefahren kam.
„Eigentlich wollten wir heute nicht kommen“, hörte ich sie zwischen all den Unwichtigkeiten sagen. „Meiner Schwester wurde gestern die Uhr gestohlen. Sie war vollkommen außer sich, ein Erbstück, verstehen Sie.“
Ein mulmiges Gefühl überkam mich, als würde dieses Gespräch so gar nicht zwischen Zuckerteilen und duftender Trinkschokolade passen. Das Bedürfnis, mich ihm zu entziehen, breitete sich immer weiter in mir aus. Aber in dieser kleinen Bude war ich gezwungen es mit anzuhören.
„Hat sie sie nicht vielleicht einfach verlegt?“, fragte meine Mutter mitfühlend. „Das hier gestohlen wird, wäre mir neu.“
Die Dame schüttelte traurig den Kopf.
„Nein, nein, das musste hier geschehen sein. Zur Sicherheit nimmt sie die Uhr bei solchen Veranstaltungen immer ab und verwahrt sie in der Handtasche. Und Zuhause dann war sie dann verschwunden.“
Selbst schuld. Wie konnte man nur derart blöd sein und denken, die Tasche wäre sicherer als das Handgelenk? Andererseits hatte mir Chris meine ebenfalls spielend vom Arm gelöst. Nein, das war eine ganz andere Situation gewesen. Der Abgriff bei Körperkontakt war nur etwas für Profis, hatte er erklärt. Hauptsächlich galt, je unauffälliger der Kontakt desto besser.
„Wir haben uns bei anderen umgehört, Sie wissen schon, Bekannte und Nachbarn, die ebenfalls hier unterwegs waren. Meine Schwester scheint nicht die Einzige zu sein.“
Allmählich ging mir die Frau auf die Nerven. Ich wollte, dass sie sich davonmachte, meine Mutter nicht länger behelligte mit ihrem dummen Gerede. Wen interessierte es schon, wem welche Kleinigkeit gestohlen wurde? Schließlich war das, was Chris passiert war, diese Brutalität mit der sein Vater ihn behandelt hatte wie einen Straßenköter, um einiges schlimmer gewesen. Doch darüber redete niemand. Die Leute kümmern sich nur um ihren eignen Scheiß, hörte ich Chris in meiner Erinnerung sagen. Vielleicht hatte er damit doch Recht gehabt und die Welt bestand aus ignoranten Egoisten, die sich nur dann in das Leben anderer einmischten, wenn diese es nicht wollten.
Verärgert packte ich die Spritzbeutel, befüllte sie mit Marmelade und rammte sie in die erkalteten Berliner. Endlich zog auch die Frau weiter und meine Mutter murmelte ein „Das ist ja furchtbar“. Ich allerdings war voll damit beschäftigt, das rote Zeug in das Gebäck zu pumpen, um es anschließend lieblos auf die Seite zu schubsen.
„Denen hast du es aber gegeben“, meinte meine Mutter und ein leichtes Lächeln umspielte ihren Mund. „Das werden die nicht wieder tun.“
„Hä?“
Sie zeigte auf die Berliner, aus denen an einigen Stellen die Marmelade quoll.
„Die müssen ja etwas Schreckliches angestellt haben, dass du sie so behandelst.“
Mit einem kurzen Murren hob ich den Puderzucker aus den unteren Regalen und verteilte ihn auf der Arbeitsplatte. Ich war nicht zu Scherzen aufgelegt. In aller Stille wollte ich meinen Frust an den blöden Dingern auslassen. Während ich die Berliner grob in das weiße Puder drückte, stellte ich mir vor, jeder einzelne davon wäre Haukes aufgedunsenes Gesicht, das ich auf die Platte klatschte. Dieser betrunkene Affe! Es war seine Schuld, dass Chris sich nicht meldete. Er hatte uns das komplette Wochenende einfach kaputtgemacht. Dabei hatte es so gut angefangen.
„Was ist los, Maus?“, seufzte meine Mutter neben mir. „Den ganzen Tag bist du schon schlecht gelaunt.“
Ich hätte gerne Lust gehabt, es ihr zu erzählen, damit ich diese Ungerechtigkeit mit jemanden teilen konnte. Und vielleicht auch, um mir einen Rat zu holen, wie ich Chris dazu bringen könnte, sich wieder mit mir zu treffen. Das ging natürlich nicht. Die Geschichte würde sie nur unnötig beunruhigen.
„Was war das mit Gregor gestern?“, fragte ich stattdessen.
„Das hast du mitbekommen? Der Arme war pitschnass und klebrig.“ Sie schüttelte kichernd den Kopf bei dem Gedanken daran.
„Das meinte ich nicht“, sagte ich schärfer als beabsichtigt.
Ihre Freude verebbte und sie schaute verlegen drein. Dann richtete sie den Blick auf den Vollautomaten und tat, als überprüfte sie den Bohnenstand.
„Er war zufällig hier, als ich zugemacht habe. Ich hatte noch nichts gegessen und er war so nett und hat mir Gesellschaft geleistet.“
Ich schnaufte und der Puderzucker wirbelte wild umher. Er blieb mir an der Schürze und an den Armen kleben. Überall dieser verfluchte Zucker!
„Ich hätte auch gerne etwas mit dir unternommen, Maus“, sagte Mama mit aller Liebe in der Stimme. „Aber ich habe dich nicht gefunden.“
„Wirklich gesucht hast du ja offensichtlich auch nicht“, brummte ich und klatschte die Berliner unliebsam in den Puderrest.
Sie seufzte leise, während sie die fertigen Dinger in die Auslage reihte und wandte sich zu mir um.
„Ich war müde, Mel. Es war ein langer Tag.“
Ohne in ihre entschuldigende Miene zu sehen, klopfte ich den Zucker von den Händen, grummelte ein „Ich bin hier fertig“ und stieß die Hintertür auf. Es gab ohnehin nicht viel zu tun, die paar Leute konnte sie auch selbst abfertigen.
Ihr verständnisvolles Gehabe und die sofortige Kapitulation ertrug ich heute nicht. Ich wollte mich streiten, aber meine Mutter war dafür mehr als ungeeignet. Diesen Part hatte früher mein Vater übernommen. Wir hatten uns immer großartig streiten können, brüllten einander an, bis wir heiser wurden, warfen die Arme wild gestikulierend in die Höhe und knallten Türen in die Rahmen. Nicht, dass es jemals ausartete, wir machten uns auf diese Weise einfach Luft, wenn wir vom jeweils anderen gefrustet waren und kamen wehmütig wieder aufeinander zu, um uns entschuldigend in die Arme zu nehmen.
Meine Mutter aber konnte das nicht. Ihr Gemüt war wie ihre Berliner, weich und zuckersüß. Sicher hätte Gregor gerne ein Stück davon gekostet.
Ich verzog angewidert das Gesicht, während ich durch die Pfützen stampfte. Sie hätte mich gesucht. Was sollte das überhaupt bedeuten? Dass sie sich, sobald ich außer Sicht war, von irgendwelchen Kerlen angraben lässt? Ich hätte schreien können, hier mitten im Regen auf der leeren Straße. Aber ich schritt nur zornig weiter, ließ das kalte Nass in die Kleidung sickern und von meinen Haaren tropfen. Vielleicht würde es mich komplett aufweichen, es wäre mir egal. Sollte ich doch eine dicke Erkältung bekommen. Dann könnte ich mich die nächsten Tage zumindest vor der Welt verkriechen.