Jeder von uns biss in sein Steaksandwich, das besser schmeckte als jemals zuvor. Vielleicht, weil es vom Geld eines anderen bezahlt wurde. Oder weil es die Belohnung für einen erfolgreichen Nachmittag war. Es mochte auch daran liegen, dass wir zwischen der großen Angebotstafel und der Häuserfassade wie abgeschottet in unserer eigenen kleinen Welt standen, ungesehen und vertraulich, während wir zuvor die Welt der anderen ein wenig durcheinandergebracht hatten.
Chris Augen beobachteten aufmerksam den Besucherstrom. Ich fragte mich, ob ihm das gefehlt hatte, die Menschenmengen, das Gedränge, die unzähligen Möglichkeiten. Ob er Berlin vermisste? Ich selbst war ein paar Mal mit der Klasse dort gewesen, hatte dabei aber nur die langweiligen Touristenorte zu Gesicht bekommen und war noch so jung, dass die Größe der Stadt mir mehr Angst eingejagt als begeistert hatte. Dort, inmitten der Hektik und Hochbauten zu leben konnte ich mir nicht vorstellen.
Auf jemanden wie Chris allerdings musste die Stadt wie ein riesiger Spielplatz gewirkt haben, der zum Austoben jeglicher Art einlud. Bis er plötzlich gezwungen wurde zu Gehen. Und schlagartig hatte er sich in einem jämmerlichen Kaff am Ende der Welt wiedergefunden, in dem das größte Spektakel das jährliche Volksfest war, dass im Gegensatz zu Berlin-Mitte einem lächerlichen Kindergeburtstag glich. Wenn er könnte, würde er womöglich ohne weiteres zurückkehren und Wittelshain in seiner Bedeutungslosigkeit versacken lassen. Und damit auch mich.
Er lehnte gegen die Hausmauer und steckte sich eine Zigarette an.
„Wie ist Berlin so?“, fragte ich.
Seine Augenbrauen hoben sich überrascht, sicher kam ihm die Frage dümmlich vor, da doch jeder wissen müsste, wie die Hauptstadt tickte. Dann aber zuckte er desinteressiert mit den Schultern.
„Sie's 'n Drecksloch und voller Arschlöcher.“
„Sie?“
Meine Unwissenheit ließ ihn selbstgefällig grinsen, wie man es bei einem Kind tat, kurz bevor man es belehrte.
„Klar. Berlin is 'ne Hure. Macht dich geil und haut dir auf's Maul, wenn du nich zahlst.“
Er erwartete wohl ein verständliches Nicken, wahrscheinlich hatten seine Freunde in Berlin das bei solchen Sprüchen getan, ich aber fühlte mich genauso schlau wie vorher.
„Ach, das verstehste nich“, murmelte er und widmete sich wieder seiner Beobachtung.
Enttäuscht über mich selbst warf ich die Sandwichreste in eine Ecke. Egal, ob er Berlin vermisste oder nicht, ich musste mich bei unseren Streifzügen zusammenreißen. Solche Sachen wie mit dem Zivilpolizisten durften mir nicht noch einmal passieren. Chris musste davon überzeugt werden, dass man sich auf mich verlassen, dass man Spaß mit mir haben konnte. Dann würde er keinen müden Gedanken mehr an Berlin verschwenden.
„Is das nich der Ladenbulle?“
Ich folgte seinem Finger, der über die Tafel auf die Buden gegenüber zeigte. Dicht gedrängt standen dort die Menschen an den Stehtischen, stopften sich mit Backkartoffeln und Bratwürsten voll, während die Bedienungen Tabletts mit Plastikkrügen über ihren Köpfen balancierten. Unter ihnen erkannte ich die breite Statur von Gregor. Er schien ganz konzentriert seinem Gegenüber zuzuhören, nickte und setzte ein dämliches Lächeln auf. Das Grüppchen vor ihnen machte sich davon und ich begriff, wem seine Freude galt. Die Pommes in der Hand meiner Mutter untermalte die Geschichte, die sie gerade erzählte, bis sie kicherte und sie im Mund verschwinden ließ. Gregor lachte.
„Der gräbt ja voll deine Mam an“, scherzte Chris.
„Tut er nicht!“, zischte ich zurück, konnte aber nicht wegsehen, als Gregor ihr seine Pommestüte zuschob und sie fröhlich das Gespräch fortsetzten.
„Na klar. Guck doch mal, wie der sich ranschmeißt. Der will einen wegstecken.“
Am liebsten hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben, aber es reichte nur für einen groben Schubs, den er glucksend hinnahm. Dann schien er etwas entdeckt zu haben, dass ich übersah. Seine Augen leuchteten auf.
„Wolln wir den mal 'n bissel aufmischen?“
Er warf mir ein freches Grinsen zu und im nächsten Moment stemmte er sich gegen den Holzaufsteller, der nach vorn kippte. Ein vorbeilaufender Mann machte einen Satz zurück, um nicht von ihm getroffen zu werden, stieß mit einem weiteren zusammen, der für die Rettung seines Getränks den Arm in die Höhe riss. Dieses schwappte auf einen anderen, der im Schreck ausweichen wollte und damit eine vollbeladene Bedienung anrempelte. Sie verlor das Gleichgewicht und damit auch das Tablett, das hinter Gregors Kopf gefährlich ins Schwanken geriet. Mit einem Mal fielen die Plastikkrüge um. Das Bier ergoss sich literweise über Gregors Haar und Schultern.
Vollkommen schockiert stand er da, mit tropfenden Gesicht und durchweichten Hemd. Meine Mutter war weitestgehend trocken geblieben, denn sie hatte beim Anblick des wackelnden Tabletts instinktiv einen Schritt zurückgemacht. Jetzt schlug sie die Hände vor den Mund, um nicht loszulachen. Aber binnen Sekunden übernahmen das alle, die es beobachtet hatten.
Zu witzig war Gregors fassungslose Miene und seine nasse Pose, bei der man meinen könnte, er hätte sich in die Hose gemacht.
„Haben wohl zu tief ins Glas geschaut, Gorski?“, rief jemand aus der Menge und das Grölen schwoll noch heftiger an.
Chris und ich lachten laut mit.