Chris hatte sich mit mir in der Querstraße zu seinem Haus verabredet. Nachdem der Tag bisher durchweg furchtbar gewesen war, konnte ich es kaum erwarten, zu erfahren, welches Ziel wir heute anpeilen würden. Aufgeregt hüpfte ich von einem Fuß auf den anderen, während ich den Gehweg abwanderte. Er ließ sich Zeit. Sonst war er immer vor mir am Treffpunkt, entweder auf dem Bordstein wippend zu dröhnender Musik in den Ohren oder mit der Zigarette im Mund an einem Gartenzaun gelehnt. Als er auch nach zehn Minuten nicht auftauchte, trieb mich meine Ungeduld in seine Straße. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen bei Hauke Martens zu klingeln, aber es würde nicht schaden, Chris zumindest entgegenzulaufen.
Von weitem erkannte ich das freistehende Haus mit den heruntergelassenen Rollläden. Die ergraute Fassade, der schmucklose Eingang und die verwahrloste Grünfläche davor erweckten den Eindruck, es wäre bereits seit Jahren verlassen. Nur der von Prospekten und Zeitschriften überquellende Briefkasten ließ darauf schließen, dass noch jemand dort wohnte. Nach allem was ich gehört hatte, war Chris dort die ersten sechs Jahre seines Lebens aufgewachsen. Das konnte man sich beim Anblick des Hauses kaum vorstellen. Aber damals, als die Martens noch als heile Familie zusammengelebt hatten, sah es sicherlich anders aus. Bevor Hauke seine Anstellung in der Fabrik verlor, bevor er mit dem Trinken anfing und bevor ihn seine Frau mit dem Sohn verlassen hatte. Irgendwie war es blanke Ironie, dass sich Chris heute genau an dem Ort herumtrieb, der für den Untergang seiner Familie verantwortlich war. Manchmal fragte ich mich, ob er es überhaupt wusste.
In sicherer Entfernung blieb ich stehen und zückte mein Handy. Das deprimierende Grundstück hatte mich schlagartig beunruhigt, deshalb wollte ich sichergehen, dass alles in Ordnung war.
Doch noch bevor ich eine Nachricht absetzen konnte, öffnete sich die Vordertür. Chris schoss heraus. Mit einem Satz überwand er die Treppen zum Eingang, sprintete durch den Vorgarten und sprang behände über den niedrigen Eisenzaun. Hinter ihm stürzte Hauke an die Tür. Die eine Hand am Rahmen gestützt, die andere an der Bierflasche.
„Du kleiner Bastard!“, brüllte er. „Verschwinde bloß, wie deine Hure von Mutter!“
Chris stoppte. Er wusste, dass ihm sein Vater nicht bis auf die Straße nachrennen würde. Dafür war er zu betrunken.
„Die is nur gegangen, weil sie deinen versoffenen Arsch nich mehr sehen konnte!“, rief er von der Straße aus angriffslustig zurück.
Vom Lärm aufgeschreckt spähten die Nachbarn der Martens über ihre Zäune, während ich mich gegen die blühenden Ausläufer eines Ginsters drückte, um nicht entdeckt zu werden.
„Ich schwöre es dir, Christian!“, tobte Hauke. „Wenn du noch mal dieses Haus betrittst, schlag ich dir die Zähne aus! Ich werd...!“
Chris hörte schon nicht mehr zu, er schob sich die Sonnenbrille über die Augen und ließ Hauke am Türrahmen weiter schimpfen. Nur als der nächste giftiger Kommentar über seine Mutter fiel, zeigte er ihm über die Schulter hinweg den Mittelfinger. Mehr hatte er nicht für ihn übrig. Aber hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er gesehen, wie Hauke in seiner Rage plötzlich ausholte. Die Bierflasche zersprang auf dem Asphalt, nur wenige Meter neben Chris. Er zuckte zusammen, ebenso wie ich. Dann lachte er laut auf.
„Triffst nich mal mehr, du scheiß Alki!“
Damit hatte es sich erledigt. Hauke knallte die Tür zu.
Trotz des derben Zwischenfalls schien Chris recht zufrieden mit sich. Gut gelaunt schlenderte er inmitten der Fahrbahn in Richtung des ausgemachten Treffplatzes. Doch mit einem Mal, etwa auf meiner Höhe und damit weit genug vom Haus entfernt, wich sein Lächeln einem bleiernen Ausdruck. Dann sah er mich unter dem Ginster stehen.
Er legte den Kopf schief.
„Das die falsche Straße, Lis.“
Ertappt kam ich aus meinem Versteck hervor.
„Ich habe gewartet“, sagte ich unbehaglich. „Und wollte nur sehen, ob du schon auf dem Weg bist.“
Er sollte nicht denken, dass ich ihn ausspioniert hätte wie seine neugierigen Nachbarn, die sich zwischenzeitlich wieder um ihre eigenen Dinge kümmerten. Mit einer gelassenen Bewegung holte er Zigarette und Zippo hervor, zündete sich die Stange an und sah mich durch seine dunklen Sonnengläser abschätzend an, als wüsste er nicht genau, was er davon halten sollte. Unendlich viele Momente schienen zu verstreichen, während wir uns gegenüberstanden und darauf warteten, dass der andere etwas sagte. Ich versuchte, die Beklemmung, die sich in mir breitmachte, beiseitezuschieben. Würde er mich einfach stehen lassen wie beim letzten Mal und sich tagelang nicht melden? Wen hätte ich denn noch ohne ihn? Mit meiner Mutter stand ich auf Kriegsfuß, Lena-Marie und ich redeten nicht mehr miteinander... Eine ziemlich kurze Liste, wie mir nun auffiel. Warum sagte er nur nichts? Ich fühlte mich wie eine Coladose, die man zu lange geschüttelte hatte. Jeden Augenblick würde ich platzen.
„Dein Vater ist ein absolutes Arschloch.“
Es schien mir die einzig passende Bemerkung zu sein. Das fand Chris wohl auch, denn sein Mundwinkel zuckte nach oben. Der Druck verpuffte, als er eine wegwerfende Handbewegung machte.
„Ach, irgendwann tut der Alte der Welt mal 'n Gefallen und säuft sich tot“, erwiderte er.
Ich presste die Lippen zusammen. Er war nur sauer, auch wenn er es nicht offensichtlich zeigte, und wahrscheinlich gab es dafür genug Gründe. Aber den Tod seines Vaters wünschte er sich nicht wirklich. Das würde sich keiner wünschen.
Freundschaftlich legte er mir den Arm um die Schultern und zog mich den Gehweg entlang. Bevor das Haus der Martens hinter einer Biegung verschwand, warf ich einen letzten besorgten Blick zurück.
„Glaubst du, er hat das mit dem Rauswurf ernst gemeint?“
Grinsend blies Chris den Rauch durch die Nase.
„Bullshit. In 'n paar Stunden kann der sich nich mal mehr dran erinnern.“
Er sagte es voller Überzeugung und um mir ein Lächeln abzugewinnen, kniff er mich neckisch in die Seite.
„Außerdem haben wir Besseres zu tun. Denn für dich wird’s heut richtig interessant, Lizzy Lis.“