In bester Laune öffnete er sich das nächste Bier. Wenn das so weiterging, müsste ich ihn hinaustragen, was bei meiner Statur und in der Dunkelheit unmöglich wäre.
„Chris“, begann ich in sanften Ton, den meine Mutter immer an den Tag legte, wenn sie etwas unangenehmes besprechen musste. „Ohne Strom ist das doch doof hier. Und Wasser gibt es auch nicht. Außerdem wimmelt es unten von Ratten.“
Wieder zuckte er desinteressiert mit den Schultern.
„Hab noch keine gesehn.“
Ich verdrehte die Augen. Er musste doch selbst einsehen, dass das eine dumme Idee war.
„Weil die nur nachts rauskommen. Und dann knabbern die das ganze Snackzeug an.“
„Die Viecher kommen doch gar nich rauf.“
Wenn es um Tiere ging, schien er nicht gerade der Hellste zu sein. Womöglich hatte er selbst nie welche gehabt, oder man beschäftigte sich in Berlin einfach nicht damit, denn was tummelte sich schon groß zwischen Betonklötzen und Asphaltstraßen.
„Glaubst du wirklich, die können keine Treppen hochklettern? Die sind total wendig und auch schlau. Wenn die was Gutes riechen, kommen sie da immer dran.“
Jetzt wurde er hellhörig. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er in Richtung Treppen, als würde dort eine Rattenarmee nur darauf warten, die Halle zu stürmen. Damit hatte ich ihn. Bei Nagern schien er etwas empfindlich zu sein. Mein Gesicht neigte sich zu Boden, um die nächste Lüge zu kaschieren.
„Und wenn sie nichts zu Fressen finden -“, sagte ich mit gesenkter Stimme. „- kommen sie zu dir in den Pulli gekrochen... und dann beißen sie dich blutig, bevor du überhaupt weißt, was los ist.“
Er schaute kurz angeekelt drein, aber dann verzog sich mein Mund zu einem Grinsen und er stürzte sich auf mich, um mir in den Bauch zu kneifen.
„Du beschissene Lügnerin!“
Ich prustete laut los. Diesen Scherz hatte ich mir einfach erlauben müssen. Es war eine würdige Revanche für die überrumpelnde Sexanfrage.
„Hast du das echt geglaubt?!“
„Nich 'n einziges Wort, du Miststück. Mich kannste nich verarschen.“
Damit ließ er sich zur Seite fallen und streckte sich genüsslich, sichtlich beruhigt darüber, von keinem Nager heimgesucht zu werden.
Meine Ansprache hatte dadurch natürlich all ihre Wirkung verfehlt. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich ebenfalls hinzulegen und zur Decke zu starren, dessen stählerne Querbalken nur noch schemenhaft zu erkennen waren. Der Regen hatte nachgelassen, das Prasseln war nur noch ein kaum wahrnehmbares Rauschen in der Ferne. Von irgendwoher hallte ein stetes Tropfen an mein Ohr. Plopp, plopp, plopp...
Allmählich spürte ich die einlullende Wirkung des Biers, die die Aufregung zuvor ausgeblendet hatte. Wie eine Decke legte sie sich über meinen Verstand, hüllte all die kleinen und großen Schwierigkeiten des Lebens ein und machte sie erträglicher. Ich sah kurz zu Chris, dessen Augen nachdenklich in die Dunkelheit gerichtet waren. Zusammengenommen könnten unsere Probleme bestimmt die komplette Halle ausfüllen. Da gäbe es eine Ecke für Lena-Marie und eine für Gregor und Mama. Die fiesen Kommentare aus der Schule und die Ignoranz der Cafégäste könnte man in den Nebenzimmern unterbringen. Mein Vater würde an der schattenhaften Decke umhergeistern. Und Hauke? Der bekäme einen großen Platz an den Treppen, den er bewachen würde wie eine riesenhafte Ratte, bereit, seine scharfen Zähne in einen zu treiben. Dazwischen saßen Chris und ich, in einem Kreis aus Licht, aus dem wir niemals wieder herauskämen. Wie auch, wir waren umzingelt von Schwärze und Ungerechtigkeiten. Plopp, plopp, plopp...
„Ist das nicht komisch?“, fragte ich in die Stille hinein. „Wenn man das Licht anmacht, sieht alles drumherum viel dunkler aus. Aber ausmachen will man es auch nicht, sonst sitzt man mittendrin, also in der Nacht. Und wer will das schon?“
Ein Frösteln überkam mich, trotz der Jacke. Chris schmunzelte, wandte den Blick aber nicht von den Stahlbalken.
„Weißte, als ich Acht war oder so, hat meine Alte in 'nem Krankenhaus gearbeitet...“ Seine Stimme klang leicht benommen, das Bier zeigte also auch bei ihm seine Wirkung.
Ab der zweiten Flasche war es immer nur eine Frage der Zeit bis er einer seiner Geschichten auspackte. Allerdings handelten diese meist von seinen Freunden in Berlin und witzigen Diebstählen. Bis auf den Rausschmiss aus der Wohnung hatte er nur wenig Worte über seine Mutter verloren. Vielleicht aber verdiente sie auch nicht mehr.
„Die stapeln da Pillen und so 'n Zeug als wären es Tic Tacs“, fuhr er fort. „Und meine Alte dacht wohl, es würd keiner checken, wenn sie sich davon bisschen Codein abgreift. Manchmal lag die wegen dem Scheiß den ganzen Tag im Bett. War nich möglich, die wach zu kriegen. Irgendwann dann haben die's im Krankenhaus dann doch gerafft und sie beim Amt verpfiffen. Hat nich lang gedauert und die haben mich ins Heim gesteckt, damit die Alte vom Zeug wieder runterkommt. War keine große Sache, nur 'n paar Monate oder so... aber da haste schon in der ersten Nacht gecheckt, dass du das Licht besser anlässt.“
Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung und betrachtete ihn. Seine Miene hatten ihre sonst so scherzhafte und selbstgefällige Art verloren, wirkte erst und in sich gekehrt. Wie hübsch er selbst in diesem kalten Schein der Campinglampe aussah, mit seiner ebenen Haut und den dichten Wimpern um den dunklen Augen. Gegen den Drang, ihn in die Arme zu schließen, konnte ich mich nur mit äußerster Anstrengung wehren.
Er sah zu mir herüber und plötzlich kehrte sein Grinsen zurück. Da war er wieder, der selbstbewusste Typ, der alles im Griff hatte und von niemanden Trost brauchte.
„Wieviel kostets denn jetzt?“, fragte er amüsiert. „Da du ja auf 'n Strich gehst und so.“
Kichernd kniff ich ihm in den Arm.
„Nicht bei den ganzen Krankheiten, die du hast.“