Ich hatte ihn wieder. Auch als er sich mit einem verstohlenen Lächeln von mir löste und mir aufhalf. Das Rot meiner Bluse hatte auf seinen Pullover abgefärbt, doch der dicke Stoff verhinderte das Durchsickern der Farbe. Anders als bei mir, denn meines klebte unangenehm auf der Haut und vernebelte meinen Verstand mit den Dämpfen der Lösungsmittel. Ein Kälteschauer fuhr mir über den Rücken. Ich rieb mir die Oberarme gegen das aufkommende Zittern.
„Magst mein Pulli?“ Chris zog sein Oberteil aus, unter dem das Nonnenshirt hervorkam.
„Ich dachte, der gehört mir jetzt sowieso?“, antwortete ich verschmitzt.
Mit dem Blick auf meine Bluse hob er nur schief grinsend die Augenbrauen. Jetzt wusste ich, worauf er aus war.
„Oh nein.“ Ich schüttelte bestimmt den Kopf, nahm den Pullover und ging in den Nebenraum.
„Ach komm!“, rief er mir nach. „Nur 'n Blick!“
Hinter der Wand versteckt knöpfte ich die durchweichte Bluse auf und schälte mich heraus.
„Wirf mal lieber einen Blick auf dein Handy“, stichelte ich, während mir auffiel, dass selbst mein BH rote Flecken hatte. „Das würde sich auch mal freuen.“
Ich zog den Pullover über den Kopf, hielt jedoch einen Moment inne, um Chris zurückgebliebene Wärme nachzuspüren, seinen Duft, der in den Fasern hing, in mir aufzunehmen. Etwas berauscht kam ich wieder hinter der Wand hervor.
„Biste eigentlich bescheuert?!“ Mit dem Display seines Handys fuchtelte er mir vors Gesicht. „Lösch das!“
Erst jetzt verstand ich, dass es um meine Nachricht ging und zog meines ebenfalls hervor, um den Chat zu betrachten. Was war das Problem? Dort war nur das Bild von der Tasche mit dem forschen Spruch. Er riss mir das Telefon aus der Hand und löschte es aus dem Verlauf.
„Da darf nix über den Abgriff stehen“, verdeutlichte er. „Keine Hinweise, keine Voicemails und vor allem keine beschissenen Bilder!“
Er hielt vier Finger in die Höhe.
„Regel Nummer Vier: Unsichtbar bleiben. Haste das kapiert?“
Innerlich fasste ich die Grundsätze zusammen: Lage checken, Risiko abwägen, Ruhe bewahren, den Abgriff nicht liegen lassen... Diese Regel hatte er übersprungen. Womöglich, weil sie mit einer Selbstverständlichkeit einherging, dass man schon nicht ganz bei Verstand sein musste, um sie zu ignorieren.
„A-aber das sieht doch niemand“, sagte ich, im kläglichen Versuch mich zu rechtfertigen.
Genervt drückte er mir das Handy wieder in die Hand.
„Noch nich. Aber wenn sie dich rankriegen, dann haste die Beweise da drin.“
Ich verstummte und starrte auf meine Schuhspitzen. Wieder hatte ich etwas falsch gemacht. Warum konnte ich bei Chris nicht meinen Kopf einschalten? In Mellis Leben funktionierte das doch auch. Der andere Teil hingegen, der Lis-Teil, schien aus lauter Impulsivität die Vorsicht zu vergessen. So war es beim Zivilpolizisten und bei der Tasche gewesen, und nun auch bei der Nachricht. Ich schlang die Arme um mich, als befürchtete ich, seinen Pullover wieder zurückgeben zu müssen.
„Jetzt mach nich so'n Gesicht“, seufzte er. „Halt dich einfach an die Regeln. Oder spielste nich mehr mit?“
Einen Moment lang stutzte ich. Diese Frage hatte er noch nie gestellt. Bisher wurde ich immer nur von ihm mitgezogen, hatte es genossen, ihm die Entscheidung zu überlassen, damit ich mich nicht vor mir selbst verantworten musste. Am Ende des Tages hatte mich die Tatsache immer beruhigt, dass er mich zu den Dingen angestiftet hatte. Aber nun war der Zeitpunkt gekommen zu wählen, selbst dafür gerade zu Stehen. Sollte ich das Spiel mit allen erdenklichen Konsequenzen durchziehen, oder es hier und jetzt beenden und damit endgültig in den behüteten Alltag zurückzukehren?
Ich hob den Blick und sah ihm fest in die Ebenholzaugen.
„Ich spiele mit.“