Gelangweilt kaute ich auf dem Ende meines Füllers herum. Während Herr Jansen Zahlen mit Prozentzeichen auf der Tafel zu einer Rechnung anordnete, war die Klasse hinter seinem Rücken mit eigenen Dingen beschäftigt. Michael aus der dritten Reihe schrieb die Hausarbeit für die nächste Schulstunde bei seinem Nachbarn ab, Zeynep aus der Zweiten starrte auf das leuchtende Handydisplay unter ihrem Tisch und Mariell aus der Vierten bereitete gerade ein Arsenal an Spuckbällchen vor. Nur Lena-Marie neben mir schien jedes Wort von Jansen zu verinnerlichen und schrieb es schnellstmöglich nieder, damit ihr die Nächsten nicht entgingen. Es war schwer vorstellbar, dass wir beide noch vor Jahren zusammen mit unseren Freundinnen Silvesterböller in Zigarettenautomaten gesteckt hatten oder auf die höchsten Bäume geklettert waren, um die Jungen unter uns mit Stöcken zu bewerfen.
Das alles nahm zwei Monate vor meinem elften Geburtstag abrupt sein Ende. Die anderen Mädchen alberten und kicherten weiter, nur ich erkannte die Sinnlosigkeit ihrer Streiche, in denen sie sich gegenseitig übertreffen wollten. Damit war ich keine mehr von ihnen und es fiel allen mehr als nur leicht, mich alleine zu lassen. Manchmal dachte ich, dass diese unausgesprochene Vereinbarung für alle das Beste gewesen war. Sie mussten sich nicht weiter mit mir beschäftigen und ich hatte meine Ruhe vor ihren Kindereien.
Nur Lena-Marie wollte das nicht erkennen. Sie blieb die Einzige an meiner Seite, ob ich mochte oder nicht. In jedem Schuljahr sicherte sie sich einen Platz neben mir und folgte mir in die Pausen. Es schien, als wäre sie zu meinem Schatten geworden. Sie wurde ruhiger, konzentrierte sich auf die Schule und ihre Zukunftspläne. Eben ein richtiger Streber, dachte ich mit rümpfender Nase.
Außerdem hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mich alle paar Wochen zu irgendetwas einzuladen, sei es zum Eisessen, zu Ausflügen oder einfach nur zum Herumhängen. Und ich war es gewohnt abzusagen, immer die Arbeit im Café oder die Nachhilfestunden vorzuschieben. An diesem ewigen Kreislauf hielten wir beide wohl aus unterschiedlichen Gründen fest.
Ein Kichern aus der Reihe vor mir ließ mich aufhorchen. Mariell zielte mit einem ausgehöhlten Kugelschreiber auf Annas Rücken, während Steffi daneben das Lachen vor lauter Schadenfreude kaum unterdrücken konnte. Mit einem treffenden Schuss katapultierte sie das erste Bällchen in Annas Haar. Da das Ding darin kleben blieb, folgten weitere unter Steffis Beifallsgesten. Anna selbst schaute nicht hinter sich, sondern zog nur den Kopf unmerklich ein. Sie wusste, dass selbst das Entfernen der Kügelchen härtere Konsequenzen nach sich ziehen würde. Also ließ sie es mit sich machen. Ihre Veranlagung zum Nichtwehren zusammen mit den abgekauten Fingernägeln und der randlosen Brille auf ihrer viel zu großen Nase und machte sie zum perfekten Opfer für Mariell und Steffi. Es war nicht das erste Mal, dass die beiden ihren Rang in der Klasse durch die Demütigung Annas zur Schau stellten. Und niemand sagte etwas. Nicht diejenigen, der Anna leidtaten und schon gar nicht diejenigen, die in das Lachen einstimmten. Ich gehörte zu Ersteren, die, die Mariells Aufmerksamkeit auf keinen Fall auf sich ziehen wollten. Viel zu lange war ich unter ihrem Radar geblieben und würde einen Dreck tun, um das zu ändern. Trotzdem versetzte es mir immer wieder einen kleinen Stich, wenn ich sah, wie Anna wortlos ihre kaputtgetretene Brille zusammensuchte oder ihre zerfledderten Hefte aufhob. Und gar nichts tat.
„Magst du uns an der Stelle bitte erleuchten, Melissa?“, fragte Jansen in die Runde.
Ich sah auf. Wie immer hatte sich keiner um eine Antwort für seine Rechnung bemüht.
„39 Prozent, glaube ich.“
„Sehr gut“, antwortete er und wandte sich wieder der Tafel zu.
Ich rutschte tiefer in meinen Stuhl und sehnte ein schnelles Ende der Stunde herbei. Sein Unterricht stelle mich regelmäßig vor eine Zerreißprobe, denn Jansen hatte es seit Jahren auf mich abgesehen. Als meine Noten damals in den Keller fielen, hatte er meiner Mutter kostenlose Nachhilfestunden für mich angeboten. Er wollte mehr als nur Verständnis für unsere Lage zeigen, war einer von denen, die sich selbst besser fühlten, wenn sie anderen halfen. Meine Mutter nahm das dankbar an und ich war gezwungen, ihn zweimal die Woche zu besuchen, mich in sein muffiges Wohnzimmer zu setzen, das vollgestopft mit Büchern und Bildern war und zu lernen. Bis auf die selbstgebackenen Kekse seiner Frau hatte ich alles an diesen Treffen gehasst. Von dem mitleidigen Blick bis hin zu der widerlichen Art, alles doppelt und dreifach zu erklären, als wäre ich begriffsstutzig. Zumal es im Ort schnell die Runde machte, dass der aufopfernde Lehrer dem armen Mahler-Mädchen unter die Arme griff, was die Peinlichkeit auf die Spitze getrieben hatte.
Ich erkannte, dass ich dort nur herauskam, wenn meine Schulleistungen besser wurden und so saß ich bis spät in die Nacht über den Büchern bis ich nur noch Einser und Zweier bekam. Das schrieb er sich natürlich gerne auf die eigene Fahne. Deshalb ließ er kaum eine Gelegenheit aus, mich im Unterricht aufzurufen, wenn sonst niemand auf die Lösung kam. Wahrscheinlich diente es seiner lächerlichen Bestätigung, er sei ein guter Lehrer.
Ich für meinen Teil war zufrieden damit, dass sich unser Kontakt wieder nur auf die Schule beschränkte und ich den Stoff derart gut beherrschte, dass ich selbst Nachhilfestunden anbieten konnte. Gegen Geld versteht sich, und ohne die Schüler mit andauernden Monologen auf die Nerven zu gehen.
Von der Seite stupste es mich sacht an.
„Magst du vielleicht mal vorbeikommen?“, fragte Lena-Marie. „Wir haben den Pool wieder befüllt, das Wetter ist ja so schön in letzter Zeit.“
„Heute?“
„Oder morgen.“
Ich schenkte ihr ein gequältes Lächeln. Sie sollte mir nicht böse sein.
„Ich habe in nächster Zeit eigentlich ziemlich viel im Café zu tun...“
Das war nicht einmal gelogen, denn gerade jetzt lief das Geschäft wieder richtig an. Da musste ich meine Mutter beinahe täglich unterstützen.
Sie zog die Unterlippe ein und sah bedrückt auf ihre Notizen. Ich bekam direkt ein schlechtes Gewissen, aber noch bevor ich ihr etwas in Aussicht stellen konnte, öffnete sich die Klassentür. Die zierliche Frau Jochen-Büchner stand im Rahmen und überblicke mit blassen Gesicht die Schüler. Dann wandte sie sich an Jansen.
„Könnte ich dich kurz sprechen, Jochen?“
Überrascht zog er die Augenbrauen hoch, legte die Kreide beiseite und folgte ihr aus dem Zimmer. Zeitgleich ging ein Raunen durch die Schülerschar. Es war nicht ungewöhnlich, dass ein Lehrer aus dem Unterricht geholt wurde, doch der Ausdruck der Lehrerin, wie sie jeden von uns kurz taxiert hatte, ließ nichts Gutes ahnen. Die Spekulationen und damit auch der Geräuschpegel stiegen an, je länger Jansen draußen blieb. Bis sich einige von ihren Stühlen trauten, um zur Tür zu schleichen und diese einen Spalt breit zu öffnen.
„Der ist gar nicht mehr da!“, riefen sie und stießen sie komplett auf, damit alle den leeren Gang dahinter sehen konnten.
Nun standen auch die anderen auf. Neugierig drücken sie sich grüppchenweise aus dem Zimmer, manche mit der Hand am Türrahmen, um im Fall der Fälle wieder schnell hineinflüchten zu können. Aus dem Flur drangen nun etliche Stimmen. Auch die Nachbarklassen mussten alleingelassen worden sein.
Nach einem Blick auf die Uhr beschloss ich, meine Bücher einzupacken.
„Was machst du denn da?“, wisperte Lena-Marie aufgeschreckt. „Der Unterricht ist doch noch nicht vorbei.“
Ich schulterte meinen Rucksack.
„In fünf Minuten haben wir Pause und ich glaube nicht, dass der wiederkommt.“
Ich wartete darauf, dass auch sie zusammenpackte. Nach einem kurzen Zögern erkannte sie, dass bleiben sinnlos wäre und so verließen wir als Letzte das Klassenzimmer.
Auf den Gängen standen die Schüler unterschiedlicher Stufen laut schwatzend beisammen. Ein Durchkommen schien praktisch unmöglich und nachdem wir uns durch ein paar Reihen quetschten, sahen wir ein, dass wir uns gedulden mussten, bis alle in Bewegung kamen.
„Da hat jemand eine Riesensauerei veranstaltet!“, rief es plötzlich von den hinteren Treppen.
„Die ganze Wand ist voll!!!“
Mit einem Mal drängten alle in dieselbe Richtung. Wir wurden mitgerissen, der Strom bewegte sich durch den Gang und die Treppen hinunter. Ich sah noch Lena-Marie, wie sie sich an ihren Rucksack klammerte, dann verlor ich sie im Gedränge aus den Augen. Immer mehr Schüler kamen aus den anderen Etagen hinzu. Die gesamte Schülerschaft schien auf einen Punkt zuzulaufen. Ich wollte mich an den anderen vorbeidrücken, aus der Menge hinaus auf den Pausenhof, aber es wurde geschoben und gezerrt, sodass ich gezwungen war mitzugehen.
Im breiten Eingangsbereich dann kam der Strom zum Stehen. Die Menschen verteilten sich und ich hatte endlich wieder Platz. Auf Zehenspitzen versuchte ich zu erkennen, was denn alle so interessant fanden. Um mich grölten und pfiffen welche, andere schimpften oder rissen die Augen unglaubwürdig auf. Ich schlüpfte zwischen einigen Zehntklässlern hindurch nach vorne bis ich es erkannte:
Auf der hohen Wand, die gespickt war mit Infozetteln, Memoboards und Plakaten, prangte ein riesiges Graffiti, dass alles überdeckte. Die Wörter „Fuck Scool“ schillerten in verschiedenen Neonfarben und bildeten das Zentrum der Schmiererei. Daneben verteilten sich schwarze Ausläufer im zackigen Muster meterweit auf dem Mauermerk. An einigen Stellen erkannte man deutlich, dass das Kunstwerk nicht zu Ende gebracht werden konnte. Womöglich wurde der Künstler vorzeitig gestört und musste das Weite suchen.
Die Lehrer sowie der Rektor, die direkt davor standen, versuchten der aufgeregten Schülerschar Herr zu werden und diese nach draußen zu dirigieren. Aber nur widerwillig löste sich die Menge auf. Deshalb dauerte es mehrere Minuten bis ich die kühle Morgenluft auf dem Pausenhof einatmen und mich auf die Suche nach Lena-Marie machen konnte.
Dabei folgte mir ein Schmunzeln.