Der Riemen meiner Tasche schnitt unangenehm in die Schulter, aber nichts konnte mich von meinem Vorhaben abbringen. Es war Freitag und ich hatte einen Entschluss gefasst. Zielsicher steuerte ich auf das südliche Ende von Wittelshain zu. Das Laufen in der engen Jeansshorts war ungewohnt, ihre Nähte rieben an meine Innenschenkel. Vor etwa drei Jahren hatte ich mir das Ding in einem Anflug von Modewahn gekauft, allerdings lag sie da noch wesentlich weiter um meinen Körper, bevor dieser angefangen hatte weibliche Kurven zu entwickeln. Jetzt schmiegte sie sich eng um mein Gesäß und verhinderte große Schritte. Wie konnten die Mädchen der Schule nur den ganzen Tag in dieser Zwangsjacke herumlaufen? Und wie schafften sie es damit überhaupt selbstsicher aus dem Haus?
Ich persönlich hatte mir eine dunkle Sonnenbrille über das Gesicht gezogen und war geduckt an den Büschen der Nachbarn entlanggehuscht, aus Angst jemand könnte mich in diesem Aufzug sehen. Mit dem knallengen Ding und der luftigen weißen Bluse kam ich mir vor wie eine Ausreißerin auf dem Weg zur nächsten Party. Glücklicherweise hatte ich das Dorf unerkannt verlassen können. Im Schatten der Bäume nahm ich die Sonnenbrille ab und atmete die feuchte Waldluft tief in meinen Bauch, während ich durch Gräser und Büsche watete, die dichter und höher geworden waren.
Den Weg ohne Chris zu gehen war merkwürdig, zu still und einsam wirkte der Forst, obwohl das Hämmern der Spechte und das Knacken im Unterholz ihn durchdrang. Sogar das eine Mal, als ich mich alleine auf den Rückweg gemacht hatte, hatte es sich nicht derart beklemmend angefühlt. Vielleicht, weil damals noch die Euphorie den Ton angegeben und alles andere überschattet hatte.
Ich achtete darauf, keine lauten Geräusche zu verursachen, als ich mich durch die Absperrung zwängte. Auch die Fabrik machte einen verlassenen Eindruck, nichts deutete auf die Anwesenheit einer anderen Person hin. Ich wusste, es gab keinerlei Gewissheit, dass sich Chris hier aufhielt. Aber im Haus seines Vaters vermutete ich ihn nicht. Zumal es mir davor graute, dort aufzuschlagen. Und wenn er nicht irgendwo in Wittelshain herumlungerte, blieb einzig das alte Gemäuer übrig. Ich ließ die Tasche über die Bretter des eingeschlagenen Fensters gleiten, dann schlüpfte ich selbst hindurch, was mit der Jeans einfacher war als mit eines meiner Kleider. Vielleicht sollte ich ihr noch eine Chance geben. Am anderen Ende des Erdgeschosses nahm ich die Treppe hinauf. Wenn, dann war er oben. Erwartungsvoll spähte ich über die Streben in die Halle. Niemand regte sich dort. Dafür drang mir der beißende Geruch von Lösungsmitteln in die Nase, dermaßen penetrant, dass ich mir die Hand vorhalten musste. Woher kam nur dieser scheußliche Gestank?
Die Antwort war gleichzeitig das Erste, dass mir ins Auge stach. Die tragenden Säulen erstrahlen in einem neongrünen Zickzackmuster. An der rechten Wand erstreckte sich ein riesiges Tribal in Schwarz und Neonblau. Die unzähligen spitzen Formen – ob es Buchstaben oder Symbole waren, konnte ich nicht bestimmen - griffen ineinander, schwangen über Tapeten und ältere Graffitis, und wurden schließlich durch weitere bedeckt. So zogen sie sich meterweit durch den Raum. Hier und da änderte sich die Farbe, mal in ein Grün, mal in ein Gelb, aber immer blieben die Bilder grell und plastisch. Vor dem überdimensionalen Kopf eines zähnefletschenden Wolfs, der Zacken und Striche unter sich begrub, blieb ich stehen. Er bestand aus mehreren schwarzen Linien und wenn man näher herantrat, hätte man nicht erkennen können, dass es sich um ein Tier handelte. Dieses Bild für sich hatte wahrscheinlich Stunden gedauert. Wie viel Zeit steckte dann im gesamten Werk? Meine Finger streiften die farbige Wand entlang, ich entdeckte einen Totenkopf, einen Adler, ein Inferno über unleserlichen Wörtern... bis ein leises Zischen aus dem hinteren Teil der Halle mich aufhorchen ließ.
Entschlossen fasste ich den Riemen meiner Tasche und folgte dem Geräusch. Auf der anderen Seite einer besprühten Säule dann sah ich ihn. Mit dem Rücken zu mir stand er vor der Wand, in der Hand eine Spraydose, den Kopf verhüllt mit einem Kapuzenpullover. Das leise Wummern von Technotönen umgab ihn.
Er wirkte wie eine Figur aus einem dystopischen Film, jene, die sich fremden Blicken entziehen und nur im Dunkeln agieren, ungesehen und distanziert. Für einen kurzen Moment konnte ich mir kaum vorstellen, dass darunter der Junge mit dem dreisten Grinsen steckte. Doch dann dachte ich daran, wie nahe er mir vor dem Fest gekommen war. Wie seine Fingerspitzen meine Wirbelsäule entlangfuhren, bis hinunter zum Po, den er umfasste, um meine Hüfte gegen seine zu pressen. Eine unerträgliche Hitze kroch von meinem Herz in den Unterleib. Ich hätte nur den Arm ausstrecken müssen, um ihn zu berühren, seine warme Haut durch den Stoff zu spüren. Während sich meine Hand zitternd nach vorn tastete, durchlebte ich eine Achterbahnfahrt aus Erregung und Angst, von der mir schwindlig wurde. Wenn ich ihn jetzt berührte, würde ich sicher in tausend Teile zerspringen.
Ich zog sie zurück. Und plötzlich schien er weit weg, obwohl er direkt vor mir stand. Als wären wir zwei Fremde, die sich rein zufällig zur selben Zeit am selben Ort befanden. Mit einem Seufzer nahm ich Abstand von ihm, wie man das bei Fremden tut. Er war derart vertieft in die Arbeit, dass er mich nicht bemerkt hatte, und die Musik aus den Kopfhörern übertönten den Rest meiner Existenz. Aus der Entfernung beobachtete ich ihn eine Weile, sah, wie er den Inhalt der Dose in weiträumigen Bewegungen auf die Wand auftrug, und fühlte mich mehr und mehr außerhalb seiner Realität. Bis ich es nicht länger aushielt und eine leere Spraydose aufhob, um sie über den Boden an seine Füße rollen zu lassen. Mit einem leisen Klacken stieß sie gegen seinen Sneaker. Abrupt stoppte das Sprayen. Die Kapuze neigte sich zu Boden. Dann wurde sie in den Nacken gezogen, zusammen mit dem Kopfhörer, und Chris drehte sich um.