Wie eine Gestrandete verkroch ich mich in hintersten Teil des Schulhofs, im Schatten der Hecke, die die Grenze des Geländes verdeutlichte. Nur ein paar Schüler der höheren Klassen ließen sich hier für wenige Minuten blicken, um ungesehen und in aller Eile rauchen zu können und danach zu verschwinden, ehe sie erwischt wurden. Sie ließen sich von mir nicht stören, denn ich hockte gegen das Schulgebäude gelehnt über meinem Terminkalender und war vertieft in die Wochenplanung.
Als wäre nichts gewesen hatte ich mich zu Unterrichtsbeginn auf meinen Platz gesetzt und dabei die Augen auf die Schulbücher geheftet. Aus dem Augenwinkel hatte ich Lena-Marie beobachtet, wie sie auf ihren Fingernägeln herumkaute. Dabei sank sie immer tiefer in den Sitz, so wie Anna es tat, wenn Mariell sie wieder einmal quälte. Irgendwann während der Geschichtsstunde hatte sie mir dann einen Zettel mit einer lapidaren Entschuldigung zugeschoben. Es wäre ein blöder Zeitpunkt gewesen, schrieb sie. Ich kritzelte den Satz 'Jeder andere wäre nicht besser gewesen' und die offensive Frage darunter, warum sie das gemacht hatte. Ihre Antwort ließ mich aus allen Wolken fallen. Die Tatsache, dass ich mich nicht für die Jungen der Schule interessierte und sie häufiger sehen wollte, hatte sie falsch aufgefasst. Sie wüsste selbst nicht, was mit ihr los war. Zornig schrieb ich zurück, dass sie sehr wohl wusste, dass ich vor einem Jahr mit Dennis Scheferling gegangen und ob das nicht ein eindeutiges Signal gewesen war. 'Du hast ihn aber nicht besonders gemocht', lautete die Antwort. 'Da habe ich einfach gedacht...' . Zu ihrem Glück hatte sie die letzten Worte weggelassen, sonst hätte ich ihr den Zettel womöglich vor der gesamten Klasse ins Gesicht gepfeffert, ob sie geweint hätte oder nicht. Chris hatte recht damit, dass mich das nicht kümmern sollte. 'Falsch gedacht!' schrieb ich quer über das Blatt, schob es ihr hin und rückte mit dem Stuhl demonstrativ von ihr ab.
Später am Tag hatte sie unbemerkt mit Jansen geredet und in der darauffolgenden Unterrichtsstunde schmiss Mariell ihren Rucksack neben mich und zischte ein erbostes „Was hast du denn mit Sommersprosse gemacht?“. Mein Stuhl rückte ein weiteres Stück zum Fenster, bis der Oberarm gegen den Sims drückte. Wie konnten sie mir das nur antun?
Für Jansen kam Lena-Maries Bitte um einen Platztausch gerade recht, denn so konnte er die ständig quatschende Steffi von Mariell trennen, ohne der Willkür bezichtigt zu werden. Lena-Marie müsste sich neben mir nicht länger in Grund und Boden schämen, und Anna Mariells Schikane nicht ertragen. Alle hatten sie gewonnen, außer mir.
Deshalb saß ich nun schmollend am Rand des Schulhofs und bekritzelte meinen Terminplaner. Es wären nur noch zwei Monate, die ich bis zu den Sommerferien durchstehen musste, dann hätte ich sie alle für Wochen los und konnte mich ganz Chris und unseren Aktionen widmen. Für einen Moment verlor ich mich in dieser Träumerei, als die Mädchengruppe in meiner Nähe plötzlich hektisch ihre Kippen austraten und das Weite suchten. Jansen kam um die Ecke geschlendert, in der Hand einen Apfel, in den gerade hineinbiss.
„Ihre Namen werden notiert, meine Damen“, rief er den Mädchen mit vollem Mund hinterher und hob die Augenbrauen, als er mich an der Wand sitzen sah.
„Melissa? Was machst du denn in der Raucherecke?“
Leise seufzend schlug ich den Planer zu. Jetzt nervte er mich schon in den Pausen. Was war nur los mit diesem Typen?
„Werde ich jetzt auch aufgeschrieben?“, fragte ich mit leichtem Trotz in der Stimme.
Er lächelte, als hätte ich einen Scherz gemacht.
„Bei Gott, nein. Du bist doch viel zu klug, um mit diesen scheußlichen Dingern anzufangen.“
Wie gerne hätte ich jetzt eine der Stangen im Mund gehabt, um ihm den blauen Dunst direkt in sein aufgeblasenes Gesicht zu pusten.
Er musterte mich und lehnte gegen die Wand, was mir bedeutete, dass es damit nicht getan war.
„Ich wollte gerne ein paar Worte mit dir wechseln.“
Volltreffer. Ich hatte mich schon gefragt, wann er wegen Lena-Marie auf mich zukommen würde, hatte aber gehofft, er würde sich damit ein paar Tage Zeit lassen. Doch sein Heldenherz konnte anscheinend keine Minute länger warten, wenn es galt, ein Mädchen in Not zu retten. Ich hätte kotzen können.
„Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit etwas unkonzentriert bist“, begann er. „Und nun noch die Sache mit Lena-Marie. Versteh mich nicht falsch, ich werde nicht fragen, weshalb ihr euch zerstritten habt, das geht mich nichts an. Aber wenn dich etwas bedrückt, dann möchte ich, dass du weißt, dass du jederzeit darüber reden kannst. Und gemeinsam können wir versuchen, eine Lösung zu finden.“
Die Schulglocke läutete, gerade rechtzeitig, wie ich fand. Ich schulterte meinen Rucksack und stahl mich einem kleinlauten „Ja, danke“ davon.
Was ein Idiot. Ich brauchte seine Hilfe nicht. Das Einzige, das ich brauchte, war ein kleiner Adrenalinkick, ein Erfolgserlebnis.
Und das würde mir Lis heute Nachmittag besorgen.