Bis auf ein paar Fahrrädern, die gegen die Wand lehnten, war das Treppenhaus leer. Der Duft von gebratenem Frikadellen hing in der Luft und aus den oberen Stockwerken hallten freudige Kinderschreie. Chris schnellte über die graumelierten Fliesen bis zur hinteren Tür, auf deren Fußmatte ein hässlicher Mopskopf aufgedruckt war. Nun kam der zweite Schlüssel zum Einsatz, den er ohne zögern ins Schloss steckte, um die Tür aufzustoßen und mit mir im Schlepptau dahinter zu verschwinden.
Keine Sekunde zu spät, denn kurz bevor sie durch einen Tritt wieder zufiel, hörte man jemanden die Treppen herunterstampfen. Mein Herz schlug hämmernd gegen den Brustkorb, als ich mich schwer an die Innenseite der Tür lehnte, die als einzige Barriere zwischen uns und dem unsagbaren Ärger, den wir bekommen konnten, stand. Mit schallender Stimme rief der Nachbar einen Abschiedsgruß durch den Gang und gleich darauf hörte man die Eingangstür wuchtig ins Schloss fallen.
„War doch ganz easy“, bemerkte Chris, zog die Kapuze in den Nacken und machte sich tiefer in die Wohnung davon.
Seufzend schloss ich die Augen. Ich brauchte einen Augenblick, um meinen rasenden Puls zu beruhigen, gleichmäßig ein und auszuatmen. Das Gemisch aus penetranten Parfüm und muffigen Möbeln verursachte mir Übelkeit. Es erinnerte mich daran, weshalb ich damals nie viel Zeit hier drinnen verbracht hatte.
„Kommste jetzt?“, rief Chris aus einem der Zimmer und schlagartig öffnete ich wieder die Augen.
Ich sollte hier nicht dämlich herumstehen, jeden Moment könnte Frau Weigart mit ihren Einkäufen zurückkommen. Schnell schritt ich an den unzähligen Bilderrahmen der senfgelben Tapete vorbei ins Wohnzimmer. Seit dem letzten Mal, als ich hier gewesen war, schien sich nichts verändert zu haben. Da stand noch immer der massive Kacheltisch vor der geblümten Couch und das sperrige Wandregal, vollgestopft mit Porzellanfiguren in allen Formen und Farben, darunter eine ganze Reihe Hundefiguren. Das einzige, dass nicht hereinpasste, war Chris, der jede Schublade und jedes Regal aufgerissen hatte, um seine Hand hereinzustecken. Gerade war er dabei mit übergestülptem Pulloverärmel einen alten Besteckkasten zu leeren, wobei er jedes der angelaufenen Teile kurz musterte.
„Glaubst, das is Silber?“, fragte er beiläufig, steckte sich das eine oder andere Teil aber bereits in die Taschen und machte sich an der nächsten Schublade zu schaffen.
„Such mal nach Schmuck oder so 'nem Scheiß. Irgendwas muss die Alte doch horten.“
Wie angewurzelt blieb ich an der Türschwelle stehen und sah dabei zu, wie sich der Raum in ein Chaos aus wahllos herausgerissenen Haushalts und Dekoartikeln verwandelte, allesamt achtlos auf den Boden geworfen.
„Jackpot“, trällerte Chris, als er sich tief in ein Regal beugte.
Aus der hintersten Ecke holte er eine samtglänzende Schatulle hervor und schüttete den Inhalt auf den Wohnzimmertisch. Kleine Ohrringe, klobige goldfarbene Armbänder und einige besetzte Broschen purzelten über die glatten Kacheln. Mit einem gewinnenden Lächeln zog Chris eine Kette aus dem kleinen Haufen und warf sie mir zu.
„Wär das nix für dich?“
Unsicher betrachtete ich die feingliedrige Silberkette mit dem hellblau glitzernden Schmuckstein daran. Das Ding war keine Kleinigkeit aus einem Laden, die rasch wieder ersetzt werden konnte, sobald die Versicherung dafür einsprang. Womöglich hingen eine Menge Erinnerungen daran. Erinnerungen einer Person, die ich kannte, seit ich ein kleines Mädchen war. Wenn ich es mir genau überlegte, wollte ich überhaupt nichts aus dieser Wohnung einstecken.
„Was'n los?“, fragte Chris, der mein Zögern bemerkte. „Nich dein Ding?“
Er schob den Rest des Schmucks über die Tischkante und ließ auch diese im Hoodie verschwinden.
„I-Ich weiß nicht...“
Mit einem genervten Stöhnen nahm er mir die Kette aus der weit geöffneten Hand, die sich nicht schließen wollte.
„Jetzt fang nich mit dem Gewissenscheiß an“, murrte er und zog mir die Kapuze vom Kopf.
Dann legte er mir die Kette um den Hals und fummelte den Verschluss zu, bevor er mein gesenktes Kinn abhob.
„Lis, sie's 'ne dumme, alte Fotze. Die hat's nich besser verdient.“
Ich sah in seine unnachgiebigen Augen, die die Endgültigkeit der Worte unterstrichen. Mir kam in den Sinn, was Frau Weigart angerichtet hatte, dass sie überall herumerzählte, wie sie Chris und mich auf dem Parkplatz hatte knutschen sehen.
„Sitzt mit ihrem fetten Arsch hier rum und hortet so 'n geilen Scheiß. Und was hast du?“
Ja genau, was hatte ich denn? Keinen Job, keine Einnahmen, und in der Schule sowie im Café konnte ich mich auch nicht mehr blicken lassen. Das alles war ihre Schuld. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie mir alles genommen. Dabei war ich immer so nett zu ihr gewesen, hatte ihre verfluchten Pflanzen gegossen und mir ihr tägliches Geschwätz angehört. Aber das war vorbei. Diesen Fehler würde die neue Melissa nicht mehr machen.
„Stimmt“, sagte ich mit fester Stimme, die sich wieder ganz nach Lis anhörte. „Sie hat es verdient.“
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf Chris Gesicht aus.
„Braves Mädchen. Und jetzt guck, ob in den andren Zimmern noch was rumliegt.“