Ich bekam keine Erkältung, aber auch keine Nachricht von Chris. Somit begann die Woche von Neuem in ihrem üblichen Trott. Unterricht, Hausarbeit, Einkauf, Nachhilfe. Dazwischen Lena-Marie, die sich weitere Nachmittage mit mir erhoffte und Jansen, der mir nach wie vor auf die Nerven ging und bei dem ich mich insgeheim fragte, ob er seine Anmerkung beim Fest bereits in die Tat umgesetzt hatte. Unterdessen fand in der Schule das zweite Jahr in Folge etwas statt, dass man nur als Balz bezeichnen konnte. Die Mädchen meiner Stufe zwängten sich in enge Röcke und Tops, aus denen ihre Brüste hervorquollen und die Jungen übertrafen sich mit provokanten Sprüchen, im kläglichen Versuch, das Alphatier zu spielen, während sie den Hintern und Dekolletees verstohlene Blicke zuwarfen. Alle schienen überaus beschäftigt damit zu sein, mit jemandem etwas anzubandeln, damit sie vor ihren Freunden damit angeben konnten. Und die, die letztes Jahr keinen abbekommen hatten, hofften im erneut aufbrodelnden Hormonschuss auf eine weitere Chance.
Nur Lena-Marie und ich saßen abseits der Balztänze. Sie in ihren weiten Shorts, die keine Kurven vermuten ließ und ich in meinem unauffälligen knielangem Kleid, bis oben hin zugeknöpft und versehen mit einen dünnen Pullover, der mir schlabbrig von der linken Schulter hin. Keiner dieser testosterongesteuerten Trottel sollte auch nur auf die Idee kommen, dass es bei etwas zu holen gab. Warum allerdings Lena-Marie mit zusammengepressten Schenkeln neben mir saß, während wir das Spiel der anderen beobachteten, verstand ich nicht recht. Mit ein wenig Mascara um die hellbraunen Augen würde sich schon jemand in ihr Sommersprossengesicht verlieben. Stattdessen sah sie Mariell dabei zu, wie sie hüftschwingend an Michael vorbeischlenderte und sich kichernd mit Steffi davonmachte, noch bevor er ihr folgen konnte. Das würde ja passen, dachte ich mit rümpfender Nase. Die Mobberin und der Sportfreak. Er könnte sie auf seinen kräftigen Schultern hinter Anna herhetzen lassen und sie seine Tischnachbarn solange quälen, bis diese ihm freiwillig die Hausaufgaben überließen. Es schüttelte mich bei dem Gedanken an dieses Horrorpärchen.
„Ist dir kalt?“, fragte Lena-Marie neben mir.
Sie hielt mir ihren dampfenden Thermobecher hin, aber ich winkte ab.
„Nur sehr merkwürdige Gedanken“, erwiderte ich.
Für einen Moment starrte sie abwesend auf den Boden.
„Das kenne ich...“
Das Handy in meinen Händen summte leise. Wie ein Verrückte trug ich es seit Tagen mit mir herum, gespannt darauf, wann das Display aufleuchten würde. Sofort sprang ich auf, murmelte ein „Ich muss mal kurz“ und ließ Lena-Marie im Balzgetummel zurück.
Dieser Augenblick sollte nur mir allein gehören. Ich eilte ins Schulgebäude und auf die nächstbeste Toilette. Zwischen Waschbecken und Tuchspender lehnte ich gegen die Kacheln, atmete tief in meinen Bauch und stellte mich auf das Hochgefühl ein, das sogleich folgen würde. Meine zittrigen Finger hoben das Handy an, entsperrten den Bildschirm. Und ließen es wieder sinken. Es war meine Mutter, die mir geschrieben hatte, dass Theresa heute im Café wäre und ich aus diesem Grund nicht kommen müsste. 'Mach dir einen schönen Nachmittag, Maus' endete die Nachricht. Dass sie mir mit eben dieser den Tag ruinierte, konnte sie nicht wissen. Die Luft entwich aus mir wie aus dem Zipfel eines Luftballons, wenn die Party endgültig vorbei war. Enttäuscht legte ich das Handy auf den Waschbeckenrand und betrachtete im Spiegel in ein Gesicht, das meinem zwar ähnelte, mir aber trotzdem fremdartig vorkam. Meine Mundwinkel strebten nach unten, so sehr ich auch versuchte, sie aufrecht zu halten. Unter den Augen lagen leichte Schatten, die den unruhigen Nächten geschuldet waren.
Plötzlich packte mich der Trotz. Ich durfte nicht länger untätig darauf warten, dass er sich meldete. Schnell lag das Telefon wieder in meinen Händen und öffneten den Chatverlauf. Nichts als Zeichen und Straßennamen. Würde ein anderer das lesen, er würde niemals denken, dass zwischen Chris und mir etwas besonderes im Gange war. Ich tippte nur ein Symbol. Das Fragezeichen. Es wäre unaufdringlich und doch bedeutete es in unserer Art der Kommunikation so viel, dass es eine Antwort verlangte. Endlich lächelte mein Spiegelbild wieder.
Und dann sah ich im Augenwinkel dieses platte Ding, das mir vorher entgangen war. Klein und rosafarben lag es auf dem Rand des vorletzten Waschbeckens, mit ausgeschaltetem Display als würde es schlummern. Ein iPhone. Jemand musste es vergessen haben. Vielleicht eines der einfältigen Mädchen der oberen Stufen, die eher darauf aus waren ihr Make-up zu perfektionieren als ihre Habseligkeiten beisammen zu halten. Ich näherte mich ihm, langsam, wie man sich einem scheuen Tier nähert. Ein kurzer Blick auf die Kabinen hinter mir genügte, um festzustellen, dass ich alleine war. Die feinen Muskeln meiner Fingerspitzen fingen augenblicklich wie wild an zu zucken. Ich könnte es nehmen, einfach einstecken. Niemand würde es bemerken. Eine kleine Bewegung und es wäre meins. Mein Abbild beobachtete mich dabei, wie ich den Arm ausstreckte. Es wirkte unsicher. Hier bist du Melli, mahnte es. Und Melli tut so etwas nicht. Aber was war mit Lis? Seit Tagen schon hielt sie sich bedeckt, darauf wartend, wieder zum Vorschein zu kommen. Sollte dieser Teil in mir nicht seinen Spaß haben dürfen, auch ohne Chris?
Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mädchen mit französischem Zopf und rosigen Wangen betrat den Toilettenraum, sah sich um, erkannte ihr Telefon und steckte es ein. Dann warf sie mir schulterzuckend ein verlegenes Lächeln zu, das so etwas wie 'Was bin ich nur für ein Schussel' bedeutete, und machte sich davon. Ich stieß einen Seufzer aus. Seltsamerweise war ich erleichtert, dass sie mir die Entscheidung abgenommen hatte.