Das Kribbeln in meinen Fingern wollte nicht aufhören, als ich in den Fahrensweg einbog. Bevor ich losgegangen war, hatte ich mir das tränenverschmierte Gesicht gewaschen und den schwarzen Faltenrock aus der Kommode meiner Mutter geschnappt, der mir kaum bis zur Hälfte der Oberschenkel ging. Mit dem luftigen Top und der Regenjacke darüber würde ich zwar keine Modepreise gewinnen, aber was machte das schon. Heute wäre ich offiziell als Lis unterwegs, und die scherte sich wenig um korrektes Auftreten. Schließlich hatte sie alle Freiheiten der Welt.
Die Wolkendecke hing noch immer bleiern über den Dächern und füllte die Luft mit klebriger Feuchtigkeit, die mir zwischen Jacke und Haut kroch. Kaum zu glauben, dass in wenigen Tagen der Sommer beginnen würde. Während ich auf Chris Ankunft wartete, sah ich skeptisch in den Himmel und hoffte, er würde uns die Tour nicht wieder vermasseln. Einen weiteren Tag ohne Abgriff könnte ich nicht ertragen. Genau das spürte ich nun in meinen Händen, die juckten, als hätte ich sie in einen Ameisenbau gesteckt. Aber nicht allein die Vorstellung, etwas ungesehen einstecken zu können, spornte die Aufregung in mir an. Auch das Zusammentreffen mit Chris nach meiner Antwort verursachte einen Schauer nach dem anderen. Würde er es ansprechen, vielleicht klar machen, wann und wo? Ich atmete tief ein und versuchte, meine Gedanken auf den Abgriff zu lenken, um nicht wie ein komplettes Nervenbündel zu wirken.
Ein Arm hängte sich von hinten über meine Schulter, gefolgt von einem Schwall kaltem Rauch, der mir in die Nase zog.
„Lizzyyyy!“
Aus der Kapuze seines schwarzen Hoodies heraus grinste mir Chris ins Gesicht, bevor er einen Schritt zurücktat, um mich von oben bis unten zu betrachten.
„Was hast dich denn so aufgehübscht? Sieht ja scharf aus.“
Noch bevor ich eine Antwort stammeln konnte, kam er wieder näher und fummelte am Reißverschluss meiner Jacke, um das Outfit darunter verschwinden zu lassen. Ein ungewohntes Verhalten, sonst steckte er immer alle Energie in das Vorhaben, mich auszuziehen. Aber heute war etwas anders. Er schien aufgekratzt und unruhig, als hätte er zu viel Energydrinks getrunken.
„Und?“, fragte ich, nachdem er mir auch die Kapuze über das Haar gezogen hatte. „Was machen wir heute?“
Er lächelte verschmitzt.
„Wirst schon sehen.“
Schon packte er mich bei der Hand und zog mich den Fahrensweg entlang. Sein warmer Griff um meine Finger ließ meine Mundwinkel automatisch nach oben wandern. Mein erstes aufrichtiges Lächeln an diesem Tag, auch wenn Chris es nicht sehen konnte, denn er war zu sehr damit beschäftigt, uns zu unserem Ziel zu manövrieren. Was würde es werden? Das Einkaufszentrum, die Tota oder der Elektroladen? Ich war zu allem bereit.
Seine Schritte wurden schneller, während sein Kopf kurz in alle Richtungen zuckte, um mögliche Beobachter ausfindig zu machen. Wir mussten schon ganz nah sein. Aber hier gab es nichts weiter als die pastellfarbenen Reihenhäuser hinter abgeschotteten Kleingärten. Zwischen gestutzten Hecken und Rhododendronbüschen huschte er in einen schmalen Fußweg. Ähnlich dem in meiner Straße schlängelte sich dieser vorbei an unzähligen Haustüren auf der einen Seite und einem hohen Holzzaun auf der anderen. An einer Stelle hinter dem Zaun konnte man Kinder spielen hören, ansonsten war keiner in der Passage zu sehen. Alle hatten sie sich dem erwarteten Unwetter wegen in ihre Häuser verzogen.
Inmitten des Wegs stoppte Chris, so unerwartet, dass ich beinahe mit ihm zusammenstieß. Doch schon im nächsten Moment zog er mich über quadratische Steinplatten bis zu einem Eingang, dessen Vordach uns vor neugierigen Blicken aus den oberen Fenstern schützte. Violette und Rosafarbene Petunien säumten die zwei Stufen zur weißgetünchten Tür. Die unzähligen Tonfiguren in Form von Zwergen inmitten des sorgsam arrangierten Blumenbeets kamen mir seltsam bekannt vor. Diese Vorliebe für kitschige Dekoartikel kannte ich nur von einer Person. Ich sah an Chris Schulter vorbei zu den Klingelschildern. Der untere Name fegte die eben noch empfundene Vorfreude mit einem Mal fort. Wir standen am Haus von Adelgunde Weigart.