Es verging wiederum einige Zeit, bis sich eine neue Gelegenheit für Wilhelma ergab, sich an Gerold heranzumachen. Gerold selbst hatte den Vorfall in der Schmiede längst vergessen. Er sah es nicht als wichtig, sich mit der Witwe des alten Schmiedes noch weiter abzugeben, da sie nicht in sein Beuteschema passte. Doch da hatte er die Rechnung ohne Wilhelma gemacht, die nur auf einen günstigen Moment wartete, sich Gerold unter den Nagel zu reißen. Dass dies allerdings auf eine etwas andere Art und Weise geschehen sollte, konnte Wilhelma nicht ahnen.
Eines Abends hatte Gerold seinen Beutel, in dem er seine kleinen Reichtümer mit sich herumtrug, in der Schmiede vergessen. Gerold lag schon auf seinem Strohsack und versuchte, den Tag Revue passieren zu lassen, als ihm sein Versäumnis einfiel. Eigentlich hätte er seinen Beutel auch über Nacht in der Schmiede liegen lassen können, denn es hatte nachts außer ihm selbst niemand Zutritt. Doch Gerold war ein vorsichtiger Mann. Nicht auszudenken, wenn der Lohn der letzten drei Monate verloren ginge, den er in dem kleinen Säckchen hortete, das er immer am Gürtel trug. Nur bei der Arbeit legte er es ab. So erhob sich Gerold noch einmal von seinem Nachtlager und ging über den dunklen Burghof zur Schmiede.
Dort angekommen wunderte er sich, dass aus Wilhelmas Kammer noch ein Lichtschein drang. Üblicherweise schlief die Frau um diese Zeit schon, denn ihr Tagwerk in der Burgküche begann schon sehr früh am Morgen, wenn andere noch schliefen. Doch um sie machte er sich keine großen Gedanken, sein Beutel war ihm wichtiger.
Um Wilhelma nicht zu stören oder sogar zu wecken, schlich sich Gerold leise in die Schmiede. Er verzichtete auch darauf, eine Kerze anzuzünden. Ein Fehler, wie sich gleich darauf herausstellte. Eigentlich dachte Gerold, er kenne sich hier gut genug aus, um nachts auf Licht verzichten zu können. Als er durch den dunklen Raum ging, stieß er gegen einen Haufen Holz, den er am Tag zuvor zum besseren Trocknen hereingebracht und nun völlig vergessen hatte. Der Stapel fiel um, dass es nur so schepperte.
Gerold, selbst erschrocken, zündete nun doch eine Kerze an der noch glimmenden Glut des Schmiedefeuers an, stellte sie auf den Tisch am Fenster und besah sich den Schaden. Vor sich hin schimpfend ging er weiter zu der Stelle, an der er früh seinen Beutel hingelegt hatte. Den umgestürzten Stapel ließ er erst einmal wie er war. Den wollte er gleich am Morgen bei Dienstbeginn wieder aufrichten.
Wilhelma, deren Kammer sich in direkter Nähe der Schmiede befand, hörte natürlich den Lärm, den Gerold machte. Erschrocken sprang sie von ihrem Strohsack auf.
„Hoffentlich ist das kein Einbrecher“, murmelte sie und ging nach draußen, um nachzuschauen. Zur Verteidigung nahm sie den Knüppel mit, der immer neben ihrem Bett stand. Diese Waffe hatte sie sich zugelegt, als nach dem Tod ihres Mannes eines Nachts ein männlicher Angestellter der Burg versuchte, in ihre Kammer einzudringen und ihr nahekommen wollte.
Nun schlich sie auf leisen Sohlen zur Tür der Schmiede. Dort hörte sie jemanden rumpeln, als würde etwas durchsucht werden.
„Na warte, nicht mit mir!“, knurrte Wilhelma, den Knüppel fester fassend und öffnete die Tür. Dabei entstand ein Windzug, der die Kerze, die Gerold kurz vorher entzündete hatte, wieder erlosch. Nun stand Gerold mit einem Male völlig im Dunkeln.
„Wer da?“, hörte er jemand von der Tür her rufen. „Du hast keine Chance, komm heraus aus deinem Versteck, du elender Einbrecher!“
Mutig schritt Wilhelma in den finsteren Raum hinein. Obwohl sie so gut wie nichts sah, lief sie unbewusst auf Gerold zu. Sie hörte jemand atmen, konnte aber nicht erkennen, wer der Eindringling war.
Gerold hörte, wie eine Person auf ihn zukam. Doch ehe er etwas erwidern und sich zu erkennen geben konnte, verspürte er einen heftigen Schlag auf den Kopf, der ihm sofort die Sinne raubte. Wie ein gefällter Baum im Wald fiel er um und gab keinen Mucks mehr von sich. Eine dunkle Ohnmacht umgab ihn.
„Hab ich dich! Von wegen hier einbrechen und alles verwüsten. Ohne mich. Ich bringe jeden zur Strecke!“, jubelte Wilhelma erfreut, als sie den vermutlichen Einbrecher wie einen Mehlsack umfallen hörte. Sie ging zur Feuerstelle und zündete, wie kurz vorher Gerold, die Kerze an, die in einer Halterung immer auf dem kleinen Tisch am Fenster stand.
„Oh weh“, schluckte Wilhelma schwer, als sie die Person erkannte, die sie für einen Eindringling gehalten hatte. Gerold lag wie tot am Boden und rührte sich nicht. Wilhelma kniete sich an seine Seite und tätschelte seine Wange.
„Komm zu dir“, begann sie zu jammern, als Gerold nicht erwachte. Immer wieder gab sie ihm kleine Klapse auf die Wange, damit er endlich wieder zu sich kommen konnte. Dabei bemerkte sie das Blut, das aus einer Wunde an seinem Kopf quoll.
„Was habe ich nur getan?“, jammerte Wilhelma wehleidig und besah sich das Blut, das nun an ihrer Hand klebte. Sie wischte es einfach an ihrem Unterkleid ab, ohne darauf zu achten, dass sie es damit beschmutzte.
„Oh Liebster“, weinte Wilhelma leise. „Ich habe dich umgebracht. Das wollte ich nicht.“
Endlich raffte sie sich auf und beschloss, den scheinbar toten Gerold zuerst einmal in ihre Kammer zu bringen, um den von ihr angerichteten Schaden besser erkennen zu können. Sie fasste ihn unter den Armen und schleifte den schlaffen Körper durch die Schmiede hinaus auf den Flur, von dort aus in ihre Kammer. Dort hievte sie ihn auf ihren Strohsack.
Sacht betastete Wilhelma die Wunde an Gerolds Kopf, wo immer noch Blut hervorquoll. Doch inzwischen war der Blutstrom fast versiegt und die Frau schöpfte Hoffnung, den Mann doch noch retten zu können. Sie ging nochmals hinaus, um am Brunnen einen Eimer mit frischem Wasser zu holen, damit sie die Wunde auswaschen konnte.
Während Wilhelma draußen Wasser holte, wurde unser Held langsam wach. Verwirrt schaute er sich um und wusste nicht, wo er sich befand. Auch an das, was kurz vorher mit ihm geschehen war, konnte er sich nicht erinnern. Wie er in diese Kammer gekommen war, war ihm ebenfalls ein Rätsel.
Gerold schaute sich um. Als er seinen Kopf drehte, wurde ihm schwindelig, so sehr brummte sein Schädel.
„Autsch“, sagte er nur, ehe er sich ermattet zurück auf den Strohsack plumpsen ließ.
Wenig später ging die Tür auf und Wilhelma trat mit einem Eimer Wasser in der Hand ein.
„Du hier?“, sagte Gerold in seiner Verwirrtheit, denn er verstand immer noch nicht, warum er hier auf diesem fremden Strohsack lag, vor allem nicht warum Wilhelma, nur mit einem Unterkleid angetan, von draußen hereinkam.
„Ich glaube, ich muss dir einiges erklären“, antwortete sie.
„Auch das noch“, erwiderte Gerold und war gespannt, was die um viele Jahre ältere Frau ihm zu sagen hatte.