Gerold hatte mit der Gefangennahme der beiden schon lange gesuchten Halunken einen guten Einstand gehabt. Das Vorkommnis hinterließ gleich einen guten Eindruck bei den anderen Mitgliedern der Stadtwache, die ihn in ihre Reihen aufnahmen, als hätte er schon immer dazu gehört. So war er von Anfang an einer der Ihren und ein angesehener Gefährte.
Diesen Tag seines ersten Dienstes und die Gefangennahme der Schurken hatte Gerold noch lange nicht vergessen, als er bereits ins nächste Abenteuer schlitterte. Ungewollt natürlich. Es war als zöge er die Abenteuer an wie das Licht die Motten.
Gerold tat seinen Dienst im Kerker nun schon seit einigen Wochen. Obwohl ihm bereits am Anfang mitgeteilt wurde, dass er auch Wachdienst in der Stadt schieben, oder auch mal dem Henker zur Hand gehen musste, hatte sich diesbezüglich noch nichts getan, worüber Gerold vor allem wegen der Hilfe beim Henker nicht gerade böse war. Die Arbeit und die Wache im Kerker war eher Müßiggang, langweilige Stunden, die Gerold lieber sinnvoller oder bei seiner Marianna verbringen würde. Doch so war er dazu verdonnert, mit Anwesenheit zu glänzen und die Zeit tot zu schlagen. Seine einzige Aufgabe war es, die beiden Inhaftierten zu bewachen. Nicht gerade eine Herausforderung für den an harte Arbeit gewohnten Schmied. So stellte ich im Laufe der Zeit ein gemächlicher Trott ein, den kaum einer entrinnen konnte.
Während sich seine Kollegen die Zeit mit Bier trinken oder Kartenspiel versüßten, hielt sich Gerold beim Bier lieber zurück. Bier benebelte schnell seine Sinne und machte ihn handlungsunfähig. Alkohol war er halt nicht so gewohnt, wie die kampferprobten Kameraden.
Erst letztens war Gerold Zeuge geworden, wie Michel eine der Wachen abstrafte, weil diese sturzbetrunken in der Wachstube lag und schnarchte. Der Kommandant der Stadtwache sah es nicht gerne, wenn sich seine Untergebenen während des Dienstes volllaufen ließen und ihre Pflichten vernachlässigten. Harte Strafen sollten sie daran erinnern und davon abhalten, während des Dienstes zu viel zu zechen.
Nur beim Kartenspiel tat es Gerold seinen Kollegen gleich. Meist hatte er Anfängerglück und gewann oft, sehr zum Unmut seiner Kameraden. Gerade hatte er es wieder einmal geschafft. Breit grinsend saß er in der Wachstube am Tisch und strich seinen Gewinn ein. Die Kreuzer, die er beim Spiel gewann, konnte er gut gebrauchen. Immerhin wollte er sich mit seiner Marianna hier in der Stadt etwas Eigenes aufbauen, da half jeder Pfennig, den er neben seinem Lohn ergattern konnte.
„Ich weiß ja nicht, wie du das machst, dass du ständig gewinnst“, murrte Bartel, „das geht ja bald nicht mehr mit rechten Dingen zu. Mir scheint, du kannst zaubern oder du hast die Karten gezinkt.“
„Ach, red doch nicht solch einen Schmarrn“, verteidigte sich Gerold vehement. „Ich kann gar nichts dafür, dass ich öfter gewinne als ihr – und außerdem – wer kann schon zaubern? Ich jedenfalls nicht!“ Damit war für ihn das Thema beendet. Obwohl es seine Kumpane immer wieder versuchten, ihn herauszufordern, ließ sich Gerold nicht ins Bockshorn jagen und blieb gelassen.
Die nächsten Tage vergingen ohne große Vorkommnisse. In der Stadt geschah nichts, worüber man sich Kopfzerbrechen machen, sich aufregen oder als Wache eingreifen musste. Auch im Kerkerturm war alles still. Die Zellen waren, bis auf die beiden Halunken, die Gerold festgesetzt hatte, leer. Ein Termin für die peinliche Befragung stand noch nicht fest. Die Obrigkeit in Erfurt ließ sich Zeit damit. So saßen die beiden Schurken eingekerkert in ihrem finsteren und fensterlosen Loch und harrten der Dinge, die kommen sollten.
Eines Nachts, Gerold hatte wieder mit Bartel Dienst, saßen die beiden in ihrer Wachstube. Kurz vorher hatten sie den obligatorischen Rundgang durch den Kerker erledigt. Die Inhaftierten schliefen in ihren Zellen, alles war ruhig. Vor ein paar Minuten meldete auch die Stadtwache, es wäre alles still. Die Leute hielten sich an die nächtliche Ausgangssperre und die Stadttore wären auch ordnungsgemäß abgeschlossen. Dass aber bereits Unheil drohte, wusste noch keiner von beiden.
Zur selben Zeit in einer schmalen Gasse mitten in der Stadt
Zwei in Schwarz gekleidete Figuren drückten sich in eine finstere Ecke. Eben hatte die Stadtwache die Gasse passiert und kontrolliert. Die beiden Männer konnten sich gerade noch so in eine dunkle Ecke drücken, sonst wären sie entdeckt worden. Als die Stadtwache vorüber gegangen war, blickten sie den Wächtern nach, bis diese um die nächste Ecke verschwunden waren.
„Das ging ja eben mal noch gut“, flüsterte der eine. „Wir müssen besser aufpassen. Am Kerkerturm darf uns das nicht passieren.“
„Ja, nicht, dass wir Ullrich und Caspar noch Gesellschaft im Loch leisten dürfen“, erwiderte der andere. „Schauen wir, wie weit die Wachen sind, damit wir heute noch zum Zuge kommen.“ So leise wie möglich schlichen die finsteren Gestalten hinter der Stadtwache her.
Die Runde endete erneut am Wachhaus des Kerkerturms. Als die beiden um die Ecke bogen, konnten sie noch sehen, wie die Männer im Häuschen verschwanden. Sie schlichen näher. Jetzt konnten sie die Gespräche durch ein offen stehendes Fenster belauschen. „Es ist nichts los heute“, hörten sie den einen der Stadtwache sagen.
„Im Kerker auch. Die beiden Inhaftierten schlafen“, erwiderte Bartel.
„Da verschwinden wir wieder“, sagte daraufhin der eine. „Bertram vom Nordtor hat noch süffiges Bier.“ Ob des baldigen Genusses des köstlichen Getränkes ließ der Wachmann seine Zunge über die Lippen kreisen. Er hatte wohl schon den Geschmack des selbst hergestellten Gebräus im Mund.
„Sauft nicht zu viel, ihr müsst die Nacht noch mehrmals raus“, mahnte Gerold die beiden.
„Ach, wir doch nicht. Wir vertragen schon einiges“, meinte einer der Stadtwachen lachend. „Komm, das Bier wartet“, wandte er sich dann an seinen Kollegen. Die Tür wurde wieder geöffnet, die beiden traten heraus und stiefelten durch die Dunkelheit über den Marktplatz in Richtung Nordtor. Die zwei Heimlichtuer schauten ihnen hinterher, bis die Dunkelheit sie verschluckte.
„Ob wir lieber noch ein wenig warten?“, fragte Sigmund seinen Kumpan Hartmann, der mit ihm unter dem Fenster hockte.
„Hast wohl Muffensausen?“, antwortete Hartmann lachend. Sein Lachen klang wie das Krächzen einer Krähe mit Halsweh.
„Ich doch nicht!“, erwiderte Sigmund. „Vorsicht bist besser als Nachsicht. Das weißt du doch. Wir helfen Ullrich und Caspar nicht, wenn wir ebenfalls festgesetzt werden.“
„Ist ja schon gut“, winkte Hartmann ab. „Komm lieber, horchen wir, was sich im Wachhäuschen tut.“ Leise schlichen sie nun an die Tür, die nur noch angelehnt war. Sie stellten sich rechts und links daneben auf und machten lange Ohren.
„Das wird wohl eine langweilige Nacht“, hörten sie eben Gerold sagen.
„Wenn nichts los ist, kann ich ja zur Schenke gehen und Biernachschub holen“, erwiderte Bartel. „Der alte Gumprecht hat bestimmt noch was für uns.“
„Wenn du meinst. Aber sieh zu, dass du so bald wie möglich zurück bist. Du weißt ja, was der Michel davon hält, während des Dienstes zu trinken. Ich habe auch keine Lust, den nächsten Rundgang alleine zu machen oder von Michel eine Tracht Prügel zu bekommen“, meinte Gerold daraufhin.
„Ich beeile mich“, versprach Bartel. „Du hast was gut bei mir“, rief er noch aus, verließ die Wachstube und knallte die Tür hinter sich zu. Der Wachmann kam so schnell heraus, dass die beiden Lauscher gerade noch hinter der Hausecke verschwinden konnten. Trotzdem bemerkte sie der Davoneilende nicht.
„Wir scheinen heute das Glück gepachtet zu haben. Nur ein Wachmann. Nutzen wir die Gunst der Stunde“, flüsterte Hartmann seinem Kumpan zu. Wieder schlichen sie, so leise es ging, zurück zum hell erleuchteten Fenster der Wachstube und schauten hinein. Gerold saß mit dem Rücken zur Tür und baute ein Kartenhaus, das immer wieder einstürzte. Das tat er mit solch einer Inbrunst, dass er nichts um sich herum wahrnahm.
„Komm jetzt“, wies Hartmann Sigmund an, ging zur Tür und öffnete diese. Gerold erwartete keine Gefahr, schon gar keinen Schlag von hinten gegen seinen Kopf, der ihn mit voller Wucht unverhofft traf.
Torkelnd versuchte Gerold, sich aufzurichten. Dabei griff er nach seiner Hellebarde, die gegen den Tisch gelehnt neben ihm stand. Doch ehe er sie ergreifen konnte, wurde die Waffe weggetreten. Polternd fiel sie zu Boden. Gleichzeitig bekam er einen Tritt ins Kreuz, der ihn zusammen brechen ließ. Aufstöhnend vor Schmerz ging Gerold zu Boden. Dabei versuchte er, sich umzudrehen. Ein zweiter Angreifer jedoch warf sich auf ihn und hielt ihn fest.
Heißer, übel riechender Atem traf Gerolds Gesicht. Angewidert wandte er seinen Kopf ab. Er würgte und wehrte sich, so gut er konnte.
„Schnell, das Seil und den Knebel“, hörte Gerold jemanden rufen. Schon wurde ihm ein stinkender Fetzen in den Mund gestopft. Ein zweiter wurde in lange Streifen gerissen und so um seinen Kopf gewickelt, dass er den Knebel nicht ausspucken konnte. Schnell waren auch seine Hände und Beine gefesselt. Dann wurde er in eine Ecke gezerrt. Jetzt erst konnte er die Angreifer erkennen. Zwei zerlumpte Männer standen vor ihm und grinsten ihn hämisch an.
„Wo ist der Schlüssel zum Kerker?“, fuhr ihn der eine an.
Wütend blickte Gerold die beiden an, gab aber keine Auskunft. Das konnte er auch nicht, er war ja geknebelt.
„Wo ist der verdammte Schlüssel?“, fuhr ihn daraufhin der eine erneut an. Mit voller Wucht trat er Gerold in die Magengegend, dass diesem die Luft wegblieb.
„Raus mit der Sprache“, wurde er wieder angeherrscht. Erneute Tritte prasselten auf ihn ein.
„Lass ihn, Hartmann“, versuchte Sigmund seinen Freund zurück zu halten, der wie im Rausch immer wieder auf Gerold einprügelte.
„Lass ihn endlich! Ich hab den Schlüssel“, hielt Sigmund Hartmann endlich zurück. Wutentbrannt drehte der sich zu Sigmund um.
„Du willst wohl auch eine…“, blaffte er ihn an. Doch dann stutzte er und starrte auf den Schlüsselbund, den Sigmund freudestrahlend hoch hielt.
„Komm schon“, knurrte nun Sigmund, „oder willst du hier Wurzeln schlagen? Caspar und Ullrich warten.“
„Wie, wo…“, stotterte Hartmann, doch weiter kam er nicht, denn Sigmund war schon durch die kleine Tür im Kerker verschwunden. Schnell eilte er ihm hinterher, ohne nochmals nach Gerold zu schauen.
Hartmann hatte Sigmund bald eingeholt. Sigmund hielt eine Kerze, die er mitgenommen hatte, in der Hand.
„Caspar, Ullrich, wo seid ihr?“, rief Sigmund nach seinen Freunden. „Caspar, Ullrich!“
„Sei doch still, wenn wir gehört werden“, blaffte Hartmann ihn an.
„Ach was, wer soll und hier unten schon hören. Es gibt hier nur einen Ausgang und das ist der, zu dem wir hier herein gekommen sind. Fenster gibt es auch keine, also keine Sorge, uns hört schon niemand“, antwortete Sigmund.
„Woher willst du das wissen“, fuhr Hartmann ihn an.
„Na woher wohl, du Hohlbirne“, erwiderte Sigmund. „Komm, suchen wir weiter. Es kann nicht mehr lange dauern und der andere Wachmann oder die Stadtwache ist zurück.“
Hartmann sah ein, es war jetzt nicht der rechte Zeitpunkt zum Diskutieren und folgte seinem Kumpan. Während sich Hartmann und Sigmund unten im Kerker abmühten, ihre eingesperrten Kameraden zu finden, kehrten bei Gerold die durch die Tritte benebelten Sinne zurück. Er sperrte seine Ohren auf, um hören zu können, was im Kerker vor sich ging. Doch er konnte nichts wahrnehmen. Dabei versuchte er, seine Handfesseln zu lösen. Keine leichte Sache, doch er schaffte es, die Fesseln abzuschütteln. Schnell löste er auch den stinkenden Knebel und die Fußfesseln. Dabei überlegte er bereits, wie er die beiden Eindringlinge dingfest machen konnte. Er schlich sich zur Tür und horchte. Aus dem Kerker war ein Rumoren und Rufen zu vernehmen.
„Lärmt nur so weiter. So weiß ich immer, wo ihr gerade seid“, murmelte Gerold vor sich hin. Inzwischen kannte er sich in den Katakomben gut genug aus, um die Eindringlinge orten zu können. Er hörte ein Quietschen, dann ein Lachen. „Aha, sie haben die Gefangenen gefunden“, dachte er sich. Angestrengt überlegte er, wie er eine Flucht verhindern konnte. Lange würde es nicht mehr dauern und die Flüchtenden würden hier oben ankommen. Da fiel ihm ein, dass die Tür mit einem Querbalken gesichert werden konnte. In der Wand neben der Tür und der Tür selbst waren schmiedeeiserne Haken angebracht, in die der Querbalken gelegt werden konnte. Gerold holte die schwere Bohle und legte sie in die dafür vorgesehenen Haken. Somit konnte die Tür von innen nicht mehr geöffnet werden. Eine Flucht war schier unmöglich.
Gerade noch rechtzeitig konnte Gerold den Balken platzieren, da hörte er schon die vier Männer die Treppe nach oben trampeln. Gleich darauf wurde an der Tür gerüttelt.
„Herrgott, verflixt nochmal, warum geht die Tür nicht auf“, hörte er einen der Männer fluchen. Wieder wurde gezerrt und gerüttelt, doch die Tür gab nicht nach.
„Das kann doch nicht sein“, schimpfte ein anderer, den Gerold als einen seiner Peiniger erkannte. „Sigmund, du Depp, wie geht diese beschissene Tür auf!“
„Woher soll ich das wissen“, hörte Gerold den als Sigmund titulierten Mann erwidern. Er erkannte die Stimme des einen, der ihn überfallen und geknebelt hatte. Gerold grinste und freute sich, dass die Strafe für den Überfall gleich auf dem Fuße folgte.
„Du warst doch schon hier“, schimpfte nun Hartmann. „Also sag schon!“
„Das ist der einzige Zugang zum Kerker“, musste Sigmund zugeben.
„Was?!“, schrien auf einmal gleich drei Männerstimmen durcheinander. „Sag das nochmal!“
„Das ist der einzige Zugang zum Kerker“, widerholte Sigmund kleinlaut.
„Gott steh uns bei. Das ist das Ende!“, hörte es Gerold nun murmeln und lächelte in sich hinein.
Plötzlich wurde die Tür des Wächterhäuschens aufgerissen und Bartel stürmte mit einem Krug Bier in der Hand herein. Polternd stellte er diesen auf dem Tisch ab.
„Was ist denn hier los?“, fragte er Gerold, als er die umgeworfenen Stühle und das Chaos bemerkte.
„Ich bin überfallen worden“, berichtete Gerold. „Zwei Männer kamen herein, überwältigten mich und wollten die Gefangenen befreien.“
„Um Himmels willen“, entfuhr es Bartel. „Wo sind die Gefangenen? Wo sind die Einbrecher? Michel lässt uns vierteilen, wenn die Inhaftierten entkommen konnten.“ Wie ein aufgescheuchtes Huhn lief er durch den Raum und raufte sich die Haare, die wirr von seinem Kopf abstanden. Gerold grinste nur und fing an zu lachen.
„Was gibt es da zu lachen? Ist das vielleicht lustig?“, fuhr Bartel ihn an.
„Nicht lustig“, erwiderte Gerold, immer noch lachend. „Die konnten nicht entkommen. Ich war schneller“, erklärte er weiter.
„Wo sind die dann?“, fragte Bartel ganz durcheinander. Er hatte immer noch nicht begriffen, was wirklich geschehen war.
„Da drinnen“, sagte Gerold feixend und zeigte mit dem Finger auf die verbarrikadierte Kerkertür. „Und so wie ich weiß, gibt es nur diesen einen Ausgang…“