Der erste Monat nach Gerolds und Mariannas Trauung verging wie im Fluge. Die beiden waren jeden Tag dabei, intensiv über ihr weiteres Leben nachzudenken. Auch wenn sie gerne bei Engelin lebten, auf die Dauer war das kein Zustand. Engelin brauchte den Platz in ihrer Hütte für sich und auch um die Menschen zu behandeln, die sie mit ihren Leiden aufsuchten.
„Wir sollten so bald wie möglich in die Stadt ziehen“, sagte Marianna eines Abends zu Gerold, als sie mit Engelin vor deren Hütte saßen und den Tag ausklingen ließen.
„Ihr wollt mich verlassen?“, fragte die Kräuterfrau traurig.
„Ach, Engelin, so kann das nicht weiter gehen“, entgegnete Marianna. „Wir sind doch nicht aus der Welt und können dich jederzeit besuchen“, versuchte die junge Frau ihre Freundin zu trösten.
„Aber…“
„Nix aber, es muss ein“, bestimmte Marianna beherzt. „Gerold, ich gehe morgen zur Burg hinauf und gebe Hannes Bescheid, dass er den Brief an seinen Oheim schreibt.“
„Du kannst nicht dorthin“, antwortete Gerold. „Hast du vergessen, dass wir vom Burgherrn verboten bekamen, die Burg noch einmal zu betreten.“
„Dann gehe ich“, bestimmte Engelin einfach, auch wenn es ihr schwer fiel, ihre lieb gewonnenen Freunde ziehen zu lassen.
Gesagt, getan… am nächsten Morgen machte sich die Kräuterfrau auf den Weg zum Töpfer. Gegen Mittag kam sie mit der Nachricht zurück, Hannes würde am Nachmittag zu seinem Oheim in die Stadt gehen und am morgigen Vormittag auf dem Rückweg hier Rast machen.
„Mein Oheim weiß Bescheid“, sagte der Töpfer ihnen, als er aus der Stadt zurückgekehrt war. „Er erwartet euch, wann immer ihr euch entscheidet, zu ihm zu gehen.“ Eigentlich wollte Hannes ihnen einen Brief für den Oheim mitgeben, doch dann sah er dies gleich als eine Möglichkeit, mal wieder in die Stadt zu gehen und alte Freunde zu treffen. Für Gerold und seine Frau stand nun der Weg in ein neues Leben offen.
„Das sind ja gute Nachrichten“, freute sich Marianna, die sich am liebsten sofort auf den Weg gemacht hätte. Doch erst mussten sie ihre wenigen Habseligkeiten zusammenpacken, die sie mitnehmen wollten. Gerold musste ihren Elan ein wenig bremsen, was nicht gerade einfach war bei dieser quirligen Frau.
Hannes selber hielt sich nur kurz bei ihnen und Engelin auf. In der Burg erwartete ihn ein Berg Arbeit, die er dringend erledigen musste. Außerdem war dort auch seine liebste Wanda, die leider zurückbleiben musste, da sie bei ihrer neuen Herrin, dem Burgfräulein, unabkömmlich war.
Bereits am nächsten Tag machte sich das junge Paar auf den Weg nach Buttstädt, die Stadt, in der Hannes Oheim lebte. Es war nicht weit, so konnten sie den Ort gut zu Fuß erreichen. Dank Hannes Wegbeschreibung fanden sie schnell besagtes Haus, das sich in einer kleinen Gasse im Weberviertel befand. Staunend schauten sich Marianna und Gerold um. Sie waren zwar schon einmal in der Stadt, um den Wochenmarkt zu besuchen, doch weiter waren sie bisher noch nie gekommen.
Das Weberviertel bestand aus kleinen Häusern, die sich eng aneinander schmiegten, als hätte jedes den Halt des Nachbarn nötig. Nach außen hin war bereits sichtbar, dass die Bewohner nicht zu den ganz Armen gehörten. Es gab sogar teilweise schon Glas in den Fenstern, was nicht alltäglich war. Nur Leute mit prall gefüllter Geldkatze konnten sich das leisten. In den Fenstern der meisten der Häuser und Hütten, die Marianna und Gerold kannten, waren Schweinsblasen aufgespannt oder sie wurden von hölzernen Fensterläden geschlossen, um im Winter die Kälte davon abzuhalten, ins Innere einzudringen. Auch das Haus des Oheims Sebalt verfügte über Glasscheiben. Staunend standen die beiden Ankömmlinge davor.
„Lass uns klopfen“, sagte Marianna, die als Erste aus dem Staunen heraus kam und sogleich die Führung übernahm. Energisch klopfte sie gegen die Tür. Anfangs war im Inneren des Hauses nichts zu hören, sodass sie nochmals klopfen musste. Endlich rührte sich etwas. Die Tür wurde geöffnet und eine alte Frau mit einer grauen Haube auf den Kopf schaute heraus. Ihr Gesicht war grimmig verzogen.
„Wer stört um diese unchristliche Zeit“, schimpfte sie ungehalten.
„Wir sind Marianna und Gerold, der Herr Sebalt erwartet uns“, gab Marianna zum Besten.
„Das glaub ich aber nicht“, knurrte die alte Frau, die die beiden Ankömmlinge in ihren abgerissenen Kleidern nochmals anschaute.
„Sein Neffe Hannes war die Tage hier und hat uns angekündigt“, ließ sich Marianna nicht aus dem Konzept bringen. „Bitte sagt dem Herrn Bescheid.“
Die Alte bemerkte, die beiden ließen sich nicht abwimmeln. Böse blickte sie Marianna an, dann Gerold, der hinter seiner Frau stand und sie machen ließ.
„Wartet hier“, sagte die Alte mürrisch und schmiss die Tür mit einem Knall hinter sich zu. Wie vom Blitz getroffen, standen Marianna und Gerold davor und wussten nicht, was sie zu solch einer Ungehörigkeit sagen sollten.
„Das kann ja heiter werden“, meinte Marianna dann nur und schüttelte den Kopf. Solch eine Ungastlichkeit war ihr noch nie unter gekommen. Dass sie hier mitten auf der Straße warten mussten, war für sie eine Frechheit.
„Warte doch erst einmal ab“, erwiderte Gerold darauf.
Es dauerte nicht lange, da wurde es hinter der Tür wieder geschäftig. Schlurfende Schritte näherten sich, die Tür wurde erneut aufgerissen. Diesmal stand ein älterer Herr vor ihnen. Er trug Hauslatschen und eine Bettmütze, unter der verstrubbelte Haare hervorschauten. Neugierig schaute er sie an, sein Blick war offen und zeigte keinerlei Erkennen. Die Ähnlichkeit mit Hannes war frappierend. Es schien als wäre einer vom anderen aus dem Gesicht geschnitten worden.
„Wir kommen von Hannes“, gab sich Gerold zu erkennen.
„Ach, ihr Beiden seid es, die Dorlein nicht reingelassen hat. Dann seid ihr Hannes Freunde, die er angekündigt hat“, begrüßte der Hausherr die beiden. „Ich bin Sebalt, der Weber“, stellte er sich dann erst einmal vor.
„Marianna und Gerold“, nannten sie nun auch ihre Namen.
„Kommt erst mal rein“, sagte Sebalt und ließ die Ankömmlinge eintreten.
Ein weiter Flur kam hinter der Eingangstür zum Vorschein. Links und rechts gingen einige Türen ab. Am anderen Ende ging eine weitere Tür in einen kleinen Hof. Eine enge Treppe führte ins Obergeschoss, wo sich wahrscheinlich noch weitere Räume befanden. Das Geräusch von arbeitenden Webstühlen war zu hören, aber auch der Duft von gebratenem Speck schwebte durch das Haus. Abwartend standen die Beiden nun im Flur. Sebalt bat sie in ein Zimmer, dessen Tür rechts abging.
Staunend blieben Marianna und Gerold mitten im Raum stehen. Durch das kleine Fenster kam die Morgensonne herein. Sie schien geradewegs auf den langen Tisch, der im hinteren Teil des Raumes stand und beinahe die gesamte Wand einnahm. Direkt an der Wand stand eine Bank, vor dem Tisch und an den beiden Kopfenden Stühle mit hohen Lehnen, die mit Schnitzwerk verziert waren.
„Setzt euch doch“, bot Sebalt ihnen einen Platz an. Er selber setzte sich auf einen der reich verzierten Stühle. Neugierig blickte er seine Gäste an.
„Nun…“, begann er dann zu sprechen, „ihr Zwei seid also Hannes Freunde, die Unterkunft und Broterwerb suchen.“
„Das sind wir“, entgegnete Gerold, der endlich die Sprache wieder gefunden hatte. „Hannes meinte, Ihr könntet uns helfen.“
„So, so, Hannes meinte das… nun…“, erwiderte Sebalt. Der Schalk war ihm anzusehen, doch Gerold erkannte ihn nicht.
„Könnt Ihr uns helfen?“, fragte er ein wenig ängstlich. Auch Marianna hatte plötzlich gar kein gutes Gefühl mehr, dementsprechend schaute sie auch aus der Wäsche.
„Nun…“, sagte Sebalt wieder. „Da muss ich mal schauen, was ich für euch tun kann.“
Mariannas Bauchgefühl wurde immer schlechter, und je schlechter es wurde, desto blasser wurde sie.
Sebalt sah das, sagte aber noch nichts dazu, sondern schaute Marianna nur leicht grinsend an.
„Wir benötigen wirklich dringend Hilfe“, sprach Gerold weiter, der ebenso bemerkte, wie ungemütlich sich seine Frau fühlte. „Wir sind auf Hannes Hinweis zu Euch gekommen, da er uns sagte, Ihr könntet uns behilflich sein.“ Gerolds Gesicht wurde mit jedem Wort blasser, es ähnelte beinahe dem eines weißen, gebleichten Lakens.
„Nun…“, Sebalt ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Nun… ihr habt bestimmt auch Hunger“, schwenkte er plötzlich vom Thema ab. Ein Knurren aus seiner Richtung ließ erkennen, dass er auch unter solchem litt.
„Wollen wir nicht erst einmal…“, warf Marianna ein, der der Duft des gebratenen Specks das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Auch sie verspürte ein wenig Hunger, der sich nun bemerkbar machte.
„Das können wir später auch noch“, wehrte Sebalt energisch ab und stand auf. Er ging zur Tür und rief in den Flur: „Ursel, komm her, wir haben Gäste! Dorlein, bring Essen und Dünnbier!“ Dann schloss er die Tür wieder. Als er sich zu den Beiden umdrehte, umspielte ein kleines Grinsen sein Gesicht.
„Habt keine Angst“, gab er sich zu erkennen. „Natürlich weiß ich um eure Not. Hannes hat mir alles erklärt. Ich weiß schon Rat.“
„Ihr habt uns die ganze Zeit zum Narren gehalten“, rief Gerold erleichtert aus. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. War ihr Weg nach Buttstädt doch nicht umsonst gewesen, wie er erst angenommen hatte. Auch Marianna wurde wieder ein wenig rosiger im Gesicht.
„Für einen kleinen Spaß bin ich immer zu haben“, bekannte Sebalt lachend und klopfte Gerold auf die Schulter. „So bin ich halt. Aber das lernt ihr auch noch.“
„So ist er nun mal, mein geliebter Bruder“, hörten sie plötzlich von der Tür her.
Alle drehten sich um.
„Meine Schwester Ursel, die alte Muhme“, stellte Sebalt vor. Marianna knickste und Gerold reichte Ursel die Hand.
„Willkommen in unserem Hause“, wurden sie von Ursel begrüßt. Auch sie war eine kleine Frau, doch im Gegensatz zu Sebalt ein wenig fülliger mit einem gewaltigen ausladenden Busen, der aus dem Ausschnitt ihres einfachen Kleides hervorblitzte. Ihr Haar war bereits vollends grau, ihre kleinen Augen blitzten stets lächelnd in ihrem gealterten Gesicht. „Setzen wir uns wieder, Dorlein wird uns gleich das Frühstück bringen. Wir haben bestimmt noch viel zu besprechen, was wir gleich beim Morgenmahl tun können.“ Sebalt rückte in den Hintergrund, seine Schwester hatte in diesem Haus wohl die Hosen an.
Alle nahmen wieder Platz, Sebalt am Kopfende, Ursel neben ihm, Gerold und Marianna gegenüber.
Als Dorlein das Morgenmahl brachte, machte sie immer noch ein grimmiges Gesicht, als hätte sie sieben Tage Regenwetter vor sich.
„Ach, Dorlein, wie immer griesgrämig“, rief Ursel aus. „Begrüße unsere Neuankömmlinge.“
„Hab ich schon“, knurrte die Magd, stellte das Essen und den großen Bierkrug auf dem Tisch ab. Aus dem Schrank entnahm sie Becher, stellte vor jedem einen ab und goss aus dem Krug Bier ein. Das alles tat sie, ohne ein einziges Wort zu sagen. Jedoch war nicht zu übersehen, wie sie die frühen Gäste des Hauses argwöhnisch beobachtete.
„Nun… so ist sie, unser Dorlein“, meinte Sebalt wieder. „Das solltet ihr ihr nicht übel nehmen. Dorlein hat ständig schlechte Laune.“ Dabei grinste er seiner Magd schelmisch blinzelnd entgegen und schnitt Grimassen. Dorlein allerdings ließ sich nicht beeinflussen. Sie wusste von Sebalts Witz, konnte dem aber nichts entgegenbringen. Sie war halt ein alter Griesgram, der durch nichts zum Lachen zu bewegen war.
„Das war sie also, die Dorlein“, sagte Sebalt, als die Magd die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie wieder unter sich waren. „Nehmt es ihr nicht übel, sie sieht immer nur Böses, Lachen kann sie gar nicht – so sie war schon immer. Da werden wir wohl nichts dran ändern können.“
„Ach, das wird schon“, warf Marianna ein. „Wenn wir uns ein wenig kennengelernt haben, wird sich das bestimmt ändern.“
„Lassen wir es uns erst einmal schmecken“, sagte Ursel und griff nach dem Brot, um sich ein Stück davon abzubrechen. Der Duft des frisch gebackenen Brotes hing in der Luft, während der gebratene Speck und Spiegeleier in der noch heißen Pfanne vor sich hin brutzelte.
Während des Essens besprachen sie alles weitere.
„Was hast du in der Burg gemacht?“, wollte Sebalt von Marianna wissen. Mit vollen Backen kaute er an dem Stück Brot, das er sich abgebrochen und in das noch fast flüssige Gelbe des Eis eingetaucht hatte.
„Ich war Küchenmagd“, erwiderte die Gefragte.
„Also kannst du auch kochen“, erkannte Ursel.
„Natürlich“, sagte Marianna darauf. „Auf der Burg durfte ich allerdings nur niedrige Arbeiten tun. Leider. Dabei hätte ich dem Burgherrn gerne meine Kochkünste gezeigt.“
„Ich glaube kaum, dass du Dorlein ihren Platz am Herd streitig machen kannst. Sie wird ihn verteidigen bis auf´s Blut“, sinnierte Ursel weiter. „Doch ab und an mal aushelfen, wenn Not am Mann ist, das könntest du“, worauf Marianna bejahend nickte. „Vor allem, wenn wir Gäste haben, ist Dorlein oft überfordert. Sie ist schon sehr alt und kann nicht immer so, wie sie es gern will. Dann musst du einspringen.“
„Kannst du auch weben?“, fragte Sebalt plötzlich. „Du hast bestimmt mitbekommen, dass das hier eine Weberei ist. Ich bräuchte noch jemanden für den neuen Webstuhl, den ich erst letztens gekauft habe. Ich selber beschäftige mich lieber mit meinen Geschäftspartnern, anstatt zu weben und meine liebe Schwester weigert sich vehement, sich an den Webstuhl zu setzen. Sie wäre für so etwas nicht gemacht. So ein Schmarrn, unser Vater – Gott habe ihn selig – war schon Weber und unsere Mutter Weberin. Der Beruf liegt uns also im Blut. Wenn ich diese Fingerfertigkeit schon nicht geerbt habe, dann wenigstens sie. Aber nein! Lieber quält sie sich Tag für Tag mit Dorlein in der Küche ab.“ Sebalt redete und redete und ließ Marianna nicht zu Wort kommen.
„Lass doch Marianna erst einmal auf deine Frage antworten“, versuchte Ursel den Redefluss ihres Bruders zu bremsen. Der winkte nur ab und überließ der jungen Frau die Wortgewalt.
„Meine Mutter hat immer selbst gewebt. Allerdings nur für den Hausgebrauch“, antwortete Marianna. „Ich habe später auch nach ihrer Anweisung gewebt, aber halt nur für unsere eigene Kleidung. Ich weiß nicht, ob ich gut genug für größere Websachen bin.“
„Das können wir nachher sehen. Ich zeig dir dann den Webstuhl und lasse dich einweisen. Wenn du wissbegierig bist, wird das schon werden. Was meinst du? Als Bezahlung biete ich dir einen Groschen am Tag.“
„Ich werde mein Bestes geben“, sagte Marianna erfreut. Auch die Bezahlung fand sie nicht zu gering, dass sie sofort zusagte, ohne sich mit ihrem Gatten zu besprechen. Ein Groschen am Tag war schon fast ein Vermögen. „Aber was wird mit Gerold?“ Sie war mit ihm zusammen in die Stadt gekommen und konnte sich nicht vorstellen, von ihm getrennt zu sein.
„Um Gerold mach dir keine Sorgen, auch für ihn wird sich eine Lösung finden“, versuchte Sebalt Marianna zu beruhigen. „Ich habe noch gestern Abend mit dem Wachtmeister des Kerkers gesprochen. Die suchen noch einen Wächter. Die Bezahlung soll auch nicht schlecht sein. So habt ihr ein gutes Auskommen, bis ihr euch etwas Eigenes leisten könnt.“
Gerold schaute ein wenig verdattert drein, hatte er sich doch vorgestellt, mit seiner Marianna zusammen bleiben zu können. Doch wenn es gar nicht anders ging, musste er in den sauren Apfel beißen.
„Ja, warum eigentlich nicht. Ich bin zwar Schmied und würde das auch gerne weiter tun, aber Kerkerwächter ist nun ja auch keine schlecht bezahlte Arbeit“, sagte Gerold. „Wann kann ich dort vorsprechen?“, wollte er noch wissen.
„Kurz vor dem Mittag ist Michel, der Wachtmeister, im Kerkerturm. Da kannst du gleich hingehen und dich vorstellen“, erwiderte Sebalt. Er erwartete keine Widerworte, womit er auch Recht behielt.
Ursel hatte sich aus dem Gespräch über die Arbeit herausgehalten. Was den Haushalt anging, hatte sie das Sagen, doch wenn es um die Arbeit ging, ließ sie ihrem verwitweten Bruder den Vortritt. Immerhin war er hier der Meister und nicht sie.
„Da nun auch das geklärt ist, will ich euch noch sagen, dass ihr hier wohnen könnt, solange Marianna hier angestellt ist. Für Unterkunft und Logis müsst ihr nichts zahlen, dafür bekommt Marianna auch nur einen Groschen am Tag. Da ihr verheiratet seid, habt ihr euer eigenes Zimmer, klein zwar, aber es wird für den Anfang, solang ihr noch keine Kinder habt, genügen“, ließ Ursel nun die Katze aus dem Sack. Sie hatte bemerkt, dass Marianna noch etwas auf dem Herzen hatte, es aber nicht wagte, sich zu äußern.
Erfreut schaute Marianna auf. „Das ist ja…“, sie stockte vor Aufregung, „… das ist ja wunderbar! Ich danke Euch!“ Sie wollte aufstehen und ihrer neuen Herrin die Hand küssen.
„Lass mal“, wehrte diese ab. „Ihr werdet hier kein Zuckerlecken finden. Harte Arbeit wird die Tagesordnung sein – nur sonntags ist frei. Miete müsst ihr nicht zahlen, dafür arbeitet ihr hier. Gerold wird nach seiner Wächtertätigkeit dem Meister unter die Arme greifen, wenn Not am Mann ist. Am Haus und im Garten ist immer mal was zu tun.“
Gerold wusste vor Freude nicht, was er sagen sollte. So viel Entgegenkommen hatte er nicht erwartet. Dass er für Lohn arbeiten musste, das war für ihn nach den Jahren auf der Burg nichts Neues, für Marianna ebenso wenig. Nur dass sie hier in der Stadt freie Leute sein würden und nach Feierabend tun und lassen konnten, was sie wollten.
Nach dem ersten gemeinsamen Morgenmahl zeigte Ursel Marianna und Gerold ihr Zimmer, das sich im oberen Stockwerk befand. Interessiert schauten sich die beiden im Raum um. Es beherbergte ein Bett, nicht sehr breit, aber anscheinend bequem. In einer kleinen Truhe konnten sie ihre Habseligkeiten verstauen, auf einer Kommode stand eine Schüssel, daneben ein Krug Wasser. Das Zimmer war nicht groß, gerade mal so, dass man mit fünf großen Schritten das der Tür gegenüber liegende Fenster erreichen konnte. Auch dieses war verglast, was vor allem im Winter vorteilhaft war. Einen Ofen gab es nicht, doch die Esse, die durch das Zimmer ging, ließ etwas Wärme abstrahlen. Im Winter wäre das wohl gut, doch im Sommer nicht besonders angenehm.
Während sich Gerold wenig später auf den Weg zum Wachtmeister Michel im Kerkerturm machte, zeigte Sebalt Marianna das Haus und die Weberei. Weiter hinten im Flur ging noch eine Tür ab. „Das ist mein Heiligtum“, erklärte Sebald Marianna. „Dort hast du nichts zu suchen, es sei denn, ich rufe dich hinein.“ Marianna nickte daraufhin nur, sie hatte verstanden.
In der Weberei saßen einige Frauen. Der Raum war fast drei Mal so groß war wie die Stube. Sechs Webstühle standen dort, immer zwei nebeneinander. Nur einer war unbesetzt. An diesem sollte nun Marianna arbeiten.
„Frauen, hört zu“, rief Sebalt in die Runde, als sie den saalartigen Raum betraten. „Das hier ist Marianna. Sie wird ab sofort mit euch arbeiten. Du…“, er zeigte auf eine etwas ältlich aussehende Frau, die neben Mariannas Webstuhl saß, „wirst ein Auge auf Marianna haben. Sei ihr behilflich, wenn sie Hilfe benötigt.“
„Sehr wohl, Herr“, entgegnete die angesprochene Frau, legte ihre Arbeit nieder und stand auf. „Ich bin Gretlin“, stellte sie sich vor. „Das sind Irmel und Clara, dort hinten sitzen Barbara und Els.“
„Gott zum Gruße“, grüßte Marianna in die Runde. Ein wenig unwohl war ihr schon, so von den fremden Frauen angestarrt zu werden, doch das würde sich im Laufe der Zeit legen. Spätestens wenn sie eingearbeitet war, wäre das Thema gegessen.
„Dann wieder an die Arbeit, die Damen! Zeit ist Geld und Geld haben wir keins“, flachste Sebalt herum, bevor er den Raum verließ, um an seine eigenen Aufgaben zu gehen.
Alle um Marianna herum plapperten wie aufgeregte Gänse. Jede wollte wissen, woher sie kam, wer sie war und warum sie gerade hierher kam. Marianna glühte der Kopf von den vielen Fragen und versuchte, alle zu beantworten. Das Geplapper zog Ursel an.
„Was ist denn hier los? Habt ihr nichts zu tun? Faulpelze!“, rief sie erbost, als sie herein kam.
„Doch, doch… wir tun schon“, entgegnete Gretlin, die wohl als Sprecherin der Frauen auserkoren war.
„Dann ist es ja gut. Sputet euch! Die Arbeit tut sich nicht von alleine“, sagte Ursel und ging wieder.
„Hoffentlich petzt die Sklaventreiberin dem Meister nicht“, flüsterte Gretlin Marianna zu. „Der kann nämlich sehr böse werden, wenn wir zu lange plaudern und die Arbeit vernachlässigen.“
„Da hat er ja auch Recht“, erwiderte Marianna, was ihr einen komischen Seitenblick von Gretlin einbrachte. „Aber nun zeig mir, wie das hier richtig funktioniert, ehe wir wirklich noch Ärger bekommen.“ In den nächsten Stunden nahm Marianna alles auf wie ein Schwamm. Schon bald war sie sich sicher, dass sie die Arbeit am Webstuhl gut schaffen konnte. Mit etwas Übung war sie darin garantiert bald so gut wie Gretlin und die anderen Frauen in der Stube.