Vom ersten Tag an hatte sie Jan gemocht. Sie konnte sich ganz genau daran erinnern, als er mit dem kleinen David zu dessen Schnuppertag gekommen war. Er war ihr allein schon durch seine Körpergröße aufgefallen. Dazu seine Augen, die immer etwas melancholisch wirkten, aber oft eine besondere Wärme austtrahlten. Insbesondere dann, wenn es um den Jungen ging. Überhaupt der Umgang zwischen Vater und Sohn. Zunächst war die Konstellation etwas ungewohnt. Erst nach und nach hatte Isabelle erfahren, dass Davids Mutter berufstätig war und sich Jans Arbeitszeiten auf die Abendstunden konzentrierten. Zu Beginn hätte sie darauf gewettet, dass Diana und Jan kein Paar mehr waren. Nur selten, dass sie gemeinsam das Kind abholten oder an den Elternabenden teilnahmen. Häufig kam auch Davids Großmutter, Dianas Mutter wie sie lernte.
Der Kleine war ein Sonnenschein und hatte sich schnell in seiner Gruppe integriert. Auch Hannah, als Gruppenleiterin die ersten Ansprechpartnerin, hatte David schnell in ihr Herz geschlossen.
Isabelle wusste gar nicht mehr, wann ihr Herzklopfen eingesetzt hatte und sie dem morgendlichen Vorbeibringen mit Vorfreude entgegen sah. Immer hatte sie zufällig etwas im Flur oder dem Eingangsbereich zu tun, wenn Jan pünktlich mit dem Jungen vom Park herüberspaziert kam. Jeden Morgen, so hatte ihr Davids Vater lachend erzählt, bestand David auf einen kurzen Besuch bei den Enten am Teich.
Dann veränderte sich etwas. Sie konnte gar nicht mit Bestimmtheit sagen, was es genau gewesen war. Jan schien immerzu müde und erschöpft. David war erstmals unausgeglichen und etwas anhänglich. Diana hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Hier und da kam deren Mutter, aber David reagierte oft weinerlich, wenn er mit seiner Oma mitgehen sollte. Isabelle beobachtete dies kritisch, ebenso Hannah. Als Erzieherinnen waren sie geschult und verpflichtet, auf auffällige Verhaltensänderungen zu reagieren. Im ersten Schritt sprach Isabelle Jan an, der die Unruhe seines Sohnes auf einen veränderten Tagesablauf der Familie schob. Der Kleine musste sich erst daran gewöhnen, dass Diana morgens schon nicht mehr im Haus war, ehe er in die Kita musste. Und immer öfter stand auch am Nachmittag Jan vor der Tür, um ihn abzuholen.
Wie jedes Jahr plante die Kita im Herbst eine Übernachtung in der Kita mit den Kleinsten. Es war durchaus unüblich, aber die recht kleine Einrichtung gab dies her. Es waren nur fünf Kinder, darunter eben David. Dazu Hannah, Isabelle selbst und die Auszubildende Kristina. Bereits vor einigen Wochen hatten sie die Eltern informiert und es lagen fast alle Anmeldungen vor. Eben bis auf die von David. Mehrfach hatte Isabelle eine Erinnerung ausgesprochen und auch jetzt wirkte Jan zerknirscht. Offenbar war er davon ausgegangen, dass die Anmeldung längst vorlag. Verlegen fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare, während David schon im Gruppenzimmer verschwand. Wieder fiel Isabelle auf, dass er abgespannt aussah.
"Das muss meine Freundin vergessen haben.", murmelte er. Also waren sie doch noch zusammen, stellte Isabelle fest. Damit hatte sie fast nicht mehr gerechnet. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass es im Leben des Kindes einen größeren Einschnitt gegeben hatte. Aber vielleicht interpretierte sie zu viel hinein. Sie musste unbedingt aufpassen, dass sie ihre Gefühle wieder in den Griff bekam. Er war vergeben. Sie musste sich das immer wieder sagen.
Jan deutete auf den Rucksack, den er mitgebracht hatte.
"David wird nachher von seiner Oma abgeholt und übernachtet dort. Das hier sind die Sachen für ihn." Er verzog etwas sein Gesicht. Isabelle nickte.
"Klar, geben wir ihr mit. Sie bringt ihn dann also auch?"
Wieder nickte Jan, dabei kaute er auf seiner Lippe.
"Wir müssen noch klären, wer ihn dann morgen holt.", meinte er nachdenklich. Isabelles Blick glitt zur Tür, die hinter David zugefallen war. Von drinnen war heiteres Lachen zu hören. Kurz überlegte sie, wie weit sie gehen durfte, ohne zu offenbaren, dass sie viel zu viel an ihn dachte.
Dann war der Moment vorrüber, Jan wieder zu Tür hinaus. Sie hatte zu lange gezögert. Sie ärgerte sich über sich selbst.
Was war das nur? Warum fühlte sie sich so hingezogen zu ihm? Sie bekam ihn auch an den nächsten Tagen nicht aus dem Kopf. Dann stand die Übernachtung an. Alle Eltern hatten eine Liste mitbekommen und Isabelle kontrollierte gewissenhaft jede Tasche oder Rucksack. Auch Davids Sachen waren vollständig und sie lächelte den Jungen freundlich an. Der war schon ganz aufgeregt und zappelte wild an der Hand seines Vaters herum. Der grinste.
"Du nimmst das aber sehr genau.", schmunzelte er. Sie stellt den Rucksack an Henris Fach in der Garderobe.
"Oh ja, wenn mal Zahnbürsten fehlen oder Unterwäsche, da haben wir massig Vorrat und können aushelfen. Aber wehe, das Lieblingskuscheltier ist nicht dabei. Da habe ich schon Eltern ihre Kinder wieder abholen sehen." Prüfend sah sie ihm ins Gesicht. "Wer holt David dann nun morgen?" Jan blinzelte und atmete durch.
"Seine Mutter, denke ich. Ich selbst habe Probe und werde nicht können." Sie nickte zustimmen.
"Prima. Gut. Aber für heute Abend bist du unser Notfallkontakt, stimmt das?" Sie sah auf die Liste und bemerkte, dass Jans Handynummer fehlte. Lächelnd nahm er ihr die Liste aus der Hand und ergänzte seine Nummer. Dann ging Jan vor seinem Sohn in die Knie und wünschte ihm einen schönen Tag und einen spannenden Abend. Er wuschelte dem Kind durchs Haar und kam wieder nach oben. Räusperte sich und ihr wurde ganz anders. Seine Augen trafen ihre und sie war sich nicht sicher, ob er sich seiner Wirkung bewusst war.
"Im Moment schläft er nicht so gut durch. Manchmal träumt er schlecht, ich, äh wir, wissen nicht warum. Bitte ruft an, wenn er sich nicht beruhigen lässt.", bat er dann. Ein paar Sorgenfalten erschienen auf seiner Stirn. Nochmal gab er seinem Sohn einen Kuss. Isabelle nickte und versprach, dass sie besonders auf den Jungen achten würde. Murmelnd verabschiedete Jan sich dann auch von ihr und sie sah ihm noch einen Moment nach. Dann forderten die Kinder wieder ihre Aufmerksamkeit.
Am späten Nachmittag zeigte sich nochmal die Sonne. Hannah hatte vorgeschlagen, mit den Kleineren nochmal nach draußen zu gehen, die anderen Kinder waren zum Großteil abgeholt worden. David und Aaron stürmten fröhlich auf die Sandkiste zu, die drei Mädchen folgten ihren Spielkameraden etwas langsamer. Hannah lächelte Isa zu, die sich eine Strickjacke übergeworfen hatte.
"Möchtest du mir sagen, was dich so beschäftigt in der letzten Zeit?", fragte die Kollegin nach. Isabelle schüttelte den Kopf.
"Nichts besonderes.", antwortete sie ausweichend. Sie mochte Hannah, sie konnte sich auf die Kollegin jederzeit verlassen, aber ihre seltsamen Gefühle wollte sie ihr jetzt doch nicht anvertrauen. Pia, die Älteste der drei Mädchen, rief nach Hannah, was Isabelle weitere Nachfragen ersparte. Sie behielt David und Aaron im Auge, die eifrig dabei waren die Eimer mit Sand zu füllen. Dann glitt ihr Blick über das Gelände bis hin zum Zaun. Dann erstarrte sie. Tatsächlich. Etwas entfernt stand Jan und sah herüber. Sie wusste, dass er mit seiner Familie am Ende des Parks wohnte, vermutlich war er auf dem Nachhauseweg. Isabelle hob eine Hand und winkte ihm zu, was er erwiderte. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Irritiert ging Isabelle zum Sandkasten. Hatte er schon lange dort gestanden? Warum?
Als sie mit den Kindern wieder drinnen waren, entschuldigte sie sich kurz. Die Liste mit den Kontaktdaten der Eltern hing in der Teeküche. Sie hangelte ihr Handy aus der Hosentasche und dachte nach. Dann nahm sie ihren Mut zusammen und formulierte eine Nachricht. Nur eine kurze Nachfrage, ob er etwas bestimmtes gewollt hatte. Völlig unverfänglich. Und dennoch zitterte ihre Hand, als sie die Nachricht verschickt hatte. Sofort färbten sich die Häckchen blau. Er antwortete prompt, dass er nur einen Spaziergang gemacht hätte, um den Kopf frei zu bekommen. Natürlich fragte er nach seinem Sohn. Sie schrieb nochmal zurück, dass alles in Ordnung sei und wünschte ihm einen schönen Abend. Dann verbannte sie das Handy in ihre Handtasche.
Mit den Kindern verlief zunächst alles nach Plan. Sie bastelten, spielten und saßen zusammen beim Abendbrot. Dann richteten sie das provisorische Zeltlager im Gruppenraum. Gegen 20 Uhr schliefen endlich alle. Hannah und Isabelle zogen sich in die Teeküche zurück und unterhielten sich leise. Später würden sie bei den Kindern schlafen, bis dahin sahen sie alle halbe Stunde nach dem Rechten. Es war dann David, der zwei Stunden später weinend in seinem Bett saß. Er weigerte sich, alleine wieder einzuschlafen. Jeder Versuch scheiterte und schließlich rief Isabelle doch Jan an. Sie wartete mit David in der Küche, während Hannah die wachgewordene Pia beruhigte. Immer noch floßen Tränen und auch Jan hatte dann sichtlich Mühe, als er an kam. Isabelle erschrack fast, als er vor ihr stand. Sie sah sofort, dass er angespannt war. Er nahm ihr den Kleinen ab und wanderte geduldig mit ihm durch den Flur. Noch immer weinte David bitterlich. Isabelle brachte Jan eine Tasse Tee, die er dankbar entgegen nahm.
"Die anderen schlafen?", erkundigte er sich leise. Sie nickte. "Ja, Hannah hat alles im Griff. Komm, lass uns wieder in den Aufenthaltsraum gehen." Er folgte ihr, während er weiterhin beruhigend auf David einsprach. Isabelle zeigte auf einen Sessel an dem langen Tisch. "Irgendwo haben wir bestimmt noch eine Decke.", überlegte sie, dabei stöberte sie schon im Wandschrank. Jan setzte sich und nahm David auf seinen Schoß. Sofort schmiegte der sich eng an seinen Vater. "Was ist denn nur los, mein Kleiner?", fragte Jan sanft. Er strich ihm über den Kopf und wischte dann mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesichtchen. "Tut dir was weh?", wollte er wissen.
Isabelle war zwischenzeitlich fündig geworden und kam mit einer Decke an den Tisch. David schüttelte wild den Kopf und verschluckte sich vor lauter Weinen. Jan wiegte ihn vorsichtig und sah Isabelle entschuldigend an.
"Sorry. So schlimm war es in den letzten Nächten wirklich nicht." Isabelle legte die Decke auf die Lehne des Sessels.
"Kein Thema. Das kommt vor. Magst du noch Tee?" Jan verneinte, aber immerhin wurde Davids Weinen leiser. Jetzt zog er die Nase hoch und sah seinem Vater ins Gesicht. "Der Onkel soll nicht mehr kommen.", schluchzte er auf. Aus Jans Gesicht entwich jegliche Farbe. Isabelle musterte ihn erschrocken. David greinte weiter und Jan zog ihn eng an sich. Gab ihm einen Kuß auf den Schopf. "Jetzt wird alles gut. Jetzt bin ja ich da, Goldstück. Papa lässt dich nicht allein." Er schaukelte seinen Sohn weiter. Dezent zog sich Isabelle zurück und ließ die beiden alleine. Sie hatte das seltsame Gefühl, in etwas sehr intimes hineingestolpert zu sein.
Sie drehte eine kurze Runde, sah überall nach dem Rechten, insbesondere bei Hannah.
Als sie zurückkam, war es vollkommen still. David schlief in Jans Armen, hatte sein Gesicht an der Brust des Vater verbogen. Und auch Jan war eingeschlafen. Isabelle griff nach der Decke und breitete sie über Vater und Sohn aus. Den Anblick sollte sie so schnell nicht vergessen. Es war der Moment in dem sie sich eingestand, dass sie sich längst in Jan verguckt hatte. Vielleicht schon da ein bisschen verliebt gewesen war. Sie widerstand gerade noch, ihm nicht durchs Gesicht zu streicheln. Sie knipste das Licht aus und verließ den Raum leise. Nur mit Mühe fand sie neben Hannah in den Schlaf.
Gegen Sechs wurden die ersten Kinder wach. Isabelle huschte nacheinander mit den Mädchen zur Toilette und auf einmal stand Jan im Gang.
"Gut geschlafen?", fragte sie lächelnd. Dann deutete sie zur Teeküche. "Ich habe schon Kaffee gekocht, falls du magst.", meinte sie. "Und du kannst natürlich gleich mit uns frühstücken, Hannah kümmert sich gleich darum.", erklärte sie. Jan nickte dankbar und steuerte die Küche an. Isabelle folgte ihm einen Moment später. Er streckte sich und wandte sich dann zu ihr um. "Sorry, das war nicht das bequemste Bett, das ich dir anbieten konnte.", sagte sie. Er nippte am Kaffee und lachte leise.
"Ist schon okay. Wenn ich bei David im Zimmer auf dem Sofa schlafe, ist es auch nicht wirklich besser.", gab er zurück.
"Machsz du das oft?", fragte sie und nahm sich einen Becher vom Haken an. Jan schien zu überlegen und wählte seine Worte dann offensichtlich mit Bedacht. "Naja, ein- bis zweimal die Woche vielleicht." Seine Augen hatten sich verändert, wie sie fasziniert feststellte.
"Diana, also seine Mutter, möchte nicht, dass er bei uns schläft. Also gehe ich zu ihm, wenn er nachts wach wird und nicht allein bleiben will." Er nahm einen großen Schluck und sah dabei furchtbar unglücklich aus.
"Hat sich was bei euch verändert in den letzten Wochen?", hörte sich Isabelle fragen. Jan hustete und setzte den Becher ab.
"Weißt du, er ist seit einiger Zeit anhänglicher als sonst. Er weicht Hannah kaum von der Seite, spielt fast nur noch mit Aaron.", erklärte sie ihm.
Jan schien meilenweit weg zu sein. Isabelle konnte beinahe greifen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Er antwortete sehr leise.
"Sie arbeitet mehr, ist kaum da. Ich kann das nicht alles auffangen." Er stellte die Tasse ab. "David ist viel bei seinen Großeltern. Es fehlt im Moment an Regelmäßigkeiten, das weiß ich. Ich versuche wirklich alles, dass er einen guten Alltag hat." Erschrocken sah sie ihn an.
"Um Gottes Willen, Jan. Das war nicht als Vorwurf gedacht." Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß." Resignierend zog er die Schultern hoch. "Zur Zeit, ich weiß gar nicht wie ich das sagen soll, zur Zeit ist einfach der Wurm drin. Aber ich bekomme das wieder hin. Wir bekommen das wieder hin." Erst später fiel ihr auf, dass er Diana nur am Rande erwähnt hatte. Er frühstückte mit ihnen und den Kindern und versprach sie zu informieren, wer den Kleinen am Mittag abholen würde. Es wunderte sie dann nicht, als er schlussendlich wieder selbst vor ihr stand.
"Die Mama ist noch nicht da, Schatz. Daher muss ich dich heute mit ans Theater nehmen. Bestimmt haben Jule und Sanne Zeit, ein bisschen mit dir zu spielen. Es tut mir leid.", erklärte er in Isabelles Beisein, während er David die Schuhe anzog. Mit einem Seufzen kam er hoch und sah bedauernd Isabelle an. "Ich habe keine Ahnung, wo Diana steckt. Ich erreiche sie nicht. Im Büro hieß es, sie sei in einem Meeting. Sie weiß, dass wir heute eine Probe vor der Vorstellung haben. Ich habe mich auf sie verlassen und jetzt das." Entschuldigend zuckte er die Schultern.
"Du könntest ihn bis um 17 Uhr ruhig hier lassen, es fehlen ein paar Kinder.", schlug sie vor. Jan griff nach Davids Jacke. "Und dann? Ich komme heute nicht vor 22 Uhr raus. Wenn Diana vergessen hat, dass sie heute dran ist, dann steht ihr nachher hier." Davids Blick ging sehnsüchtig zum Spielzimmer. Jan stopfte die Brotdose des Kindes in den Rucksack. "Ich habe noch die Legokiste in der Garderobe. Und bestimmt malt Sanne was mit dir." David schob seine Hand in die von Jan und sah zu ihm hoch. "Wo ist Mama?", wollte er wissen. Jan schulterte den kleinen Rucksack und hob seinen Sohn auf den Arm. "Unterwegs, Schatz.", murmelte er. Er sah zu Isabelle. Bedankte sich für ihren Vorschlag und verabschiedete sich dann eilig. Er war spät dran.
Als am nächsten Morgen David fehlte, machte sie sich ihre Gedanken. Per Mail hatte Diana Meister ihren Sohn für die nächsten Tage abgemeldet. Ohne Begründung. Isabelle überlegte, Jan anzuschreiben, aber im Grunde ging sie das alles nichts an, oder? Er war der Vater eines Kindes, das zufällig hier in den Kindergarten ging. Er war in einer Beziehung. Soweit sie wusste jedenfalls. Dennoch bekam sie Jans Augen nicht aus dem Kopf. Oder seinen Geruch. Vielleicht ganz gut, dass er ein paar Tage nicht kommen würde. Und trotzdem machte ihr Herz einen aufgeregten Satz, als Davids Großmutter nach ein paar Tagen ankündigte, dass der Junge am nächsten Morgen wieder kommen würde. Warum aber meldete sie sich und nicht Jan? Oder Diana?
Sie schlief unruhig in jener Nacht. War dann auch als Erste in der Einrichtung und begann alles herzurichten. Sie wollte geraden den Schlafraum lüften, als ihr Jan und David auffielen. Die beiden kamen durch den Park auf das Gebäude zu und Jan sah unsicher herüber. Nanu, dachte sie. Sie winkte beide heran und begrüßte David dann lächelnd, dabei musterte sie Jan verstohlen. Seine Klamotten war zerknittert und er sah aus, als hätte er kaum geschlafen. Sie schlug einen Kakao für David vor, der ihr begeistert zustimme und dann in den Gruppenraum lief.
"Du siehst müde aus.", meinte sie, als sie die Milch aufsetzte. Jan zuckte mit den Schultern und stand unschlüssig im Raum. Isabelle rührte den Kakao an und musterte Jan weiter. Der hatte sich auf die Eckbank gesetzt und sah ihr still zu.
"Ist bei euch alles in Ordnung?", tastete sie sich vorsichtig vor.
Er schluckte, seine Mundwinkel zuckten.
"Nichts ist in Ordnung, Isabelle.", antwortete er mit belegter Stimme.
"Bitte habt ein Auge auf David, heute. Gebt ihm niemandem mit, außer mir. Auch nicht seiner Großmutter. Ich hole ihn später ab. Und nur ich." Er erhob sich. "Bitte ruf an, wenn irgendwas ist." Isabelle nahm den Kakao. Was war hier los?
"Natürlich, machen wir. Aber was ist passiert? Was ist mit seiner Mutter?", fragte sie stirnrunzelnd. Sie waren den Flur entlang gegangen und standen jetzt an der Tür zum Gruppenzimmer. David saß in der Legoecke und spielte. Jan atmete tief durch, ließ seine Schultern fallen.
"Sie ist gegangen und hat den Kleinen bei ihren Eltern geparkt." David hatte sie entdeckt und kam auf Jan zugelaufen, der ihn sofort hoch nahm. "Aber jetzt bleibst du bei Papa.", flüsterte er und David nickte dazu. Isabelle schüttelte verwirrt den Kopf.
"Wie gegangen?", fragte sie verständnislos. Jan schob eine Haarsträhne aus der Stirn seines Sohnes, biss sich auf die Lippe.
"Sie hat mich verlassen und sie will mir das Kind wegnehmen.", flüsterte er. David wollte wieder heruntergelassen werden. Isabelle sah ihn sprachlos an. "Und jetzt?", wollte sie wissen. Sie konnte Mütter, die ihre Kinder verließen, einfach nicht verstehen. Jan seufzte und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. "Ich weiß es nicht."
Ab diesem Tag konnte sich Isabelle nicht mehr wehren. Sie wollte für ihn da sein, ihn unterstützen und wenn er es irgendwann zulassen konnte, lieben.
Schon da spürte sie, dass es kein leichter Spaziergang werden würde, aber sie spürte ebenso, dass er es wert war.
Als sie ihm einige Tage später einen Babysitter vermittelte und er sie vor Dankbarkeit anstrahlte, war sie einfach nur glücklich. Kristina, ihre Auszubildende, hatte schon länger einen Nebenjob gesucht und Jan konnte so für einige Abende beruhigt ans Theater fahren, ohne den Kleinen permanent mitzunehmen. David mochte Kristina, kannte sie gut und es war eine praktische Lösung.
Als Dankeschön lud Jan sie ein. Isabelle ermahnte sich selbst. Kein Date. Nur ein harmloses Treffen. Immerhin war er frisch getrennt und schien auch daran zu knabbern zu haben. Trotzdem breiteten sich Schmetterlinge in ihrem Bauch aus, als sie sich für den Abend zurecht machte. Albernes Ding, schimpfte sie sich. Dennoch trug sie etwas Make-up auf, was sie sonst nur am Wochenende tat. Nur ein Abendessen, erinnerte sie sich. Und weil Jan an diesem Abend frei hatte und der Kleine bei ihm war , auch nur in der Wohnung. David würde da sein. Nur eine Pizza. Ein Dankeschön, mehr nicht.
Alle Vorsätze fielen wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Ein Kuss, der alles durcheinanderbrachte und alles veränderte.